Ay Reise-Gemeinde,
nachdem der erste Stau-Schreck überwunden ist, stehe ich auf dem Balkon in der Morgensonne und entspanne mich minütlich. Heute, am Samstag, soll es von Zürich nach Locarno gehen. Aber vorher gilt es noch, ansatzweise eine gute Tat zu vollbringen, ein dicker Cherokee 5.7 röchelt auf der Parkbucht vor sich hin. Der freundliche Schweizer bittet mich unter 8-Zylinder-Brüdern um Starthilfe, während seine Frau schon resignierend den gesamten Kofferraum und Rücksitz wieder von den gerade gepackten Urlaubsutensilien befreit. Was man so alles mitnehmen kann…
Selbstverständlich habe ich ein Starthilfekabel dabei. Aber nein! Der Bolide geht immer und immer wieder aus, patscht und wimmert und benimmt sich so gar nicht wie ein großes Auto. Das Problem scheint eher in einer komplett toten Lichtmaschine zu liegen. Ich kann dem traurig guckenden Einheimischen leider nicht helfen. Also weiter!
Wenn man nur zu zweit unterwegs ist, braucht man keinen Kombi. Nein, einen Kombi braucht man nicht. So ein V8-Kofferraum fasst durchaus auch die Nessesaires (schreibt man das so?) einer einfachen Fachärztin, nimmt doch das Wochengepäck des Sandmanns lediglich eine Reisetasche in Anspruch. Ich denke an die auspackende Cherokee-Dame von eben… Am meisten beeindruckt den Treppe-nach-unten-Träger der große Wäschekorb mit Schuhen für den Strand, für das Frühstück, Flipflops, zum Stadtbummel, für das Konzert in Locarno und für’s Ausgehen. Außerdem für jeden Anlass ein Täschchen, eines für jeden Tag, eins für den Strand, für den Supermarkt, für die Fußgängerzone und eine für das Frühstück. Na ja, und die üblichen Verdächtigen, taschenweise Beautypasten, duftende Cremes, mannigfaltige Produktvarianten für die Haare und was Frau eben so braucht. Ich lege noch meine Gitarre oben drauf, sie sieht aus wie der Deckel von Douglas. Ich glaube, wir können losfahren.
Im Radmulden-Tank dümpeln rund 20 Liter LPG, also mache ich mir (noch) keine Sorgen über ein Weiterkommen. Vor dem Nadelöhr Gotthard-Tunnel türmen sich die gestern aufgebrochenen Massen an Deutschen, Niederländern und Österreichern, die alle in den Süden wollen. Der Verkehrsfunk klingt wie ein bunter Horrorfilm, also nehmen wir die Ausweichroute über San Bernadino (was auch schon wie jede Menge Urlaub klingt, finden Sie nicht?). Vorbei geht es an der legendären Via Mala und entlang wunderschöner smaragdgrüner Seen und liebenswerter Städtchen. In dieser Ecke der Schweiz waren wir bisher noch nicht. Warum eigentlich, es ist wunderschön hier? Der V8 schnurrt wie ein Uhrwerk und freut sich, dass er endlich einmal wieder Kilometer abspulen darf. In Kiel steht er wegen seines kleinen Bruders momentan eher ein wenig verloren in der Gegend rum.
Um die Eingangsfrage aufzulösen: Nein, Locarno ist nicht in Italien, sondern in der italienischen Schweiz, also von oben aus gesehen hinter den Alpen. Aber wenn das hier nicht wie in Italien aussieht, wo bitte dann? Der Lago Maggiore funkelt unter Palmen, entspannte Menschen bummeln über die Promenade, überall gibt es Eis und es duftet nach Pizza und gegrillten Garnelen. Wenn man Mona Lisa die Hotels aussuchen lässt, bekommt man keine halben Sachen, also stehe ich staunend vor dem Ramada Lake-Side und höre von einem Zimmer mit Blick auf den Lago Maggiore. Fragen? Im Gegenzug darf ich den Parkplatz aussuchen, aber wenn Engel reisen, spielt nicht nur das Wetter mit, sondern auch der Patron der offenen Verkehrslücken. Ich parke den altgedienten Herren aus Neckarsulm direkt vor dem Eingang und fühle mich ein wenig angemessen, wenn auch ein paar Jahre zu spät… zwischen all den neuen Bentleys und Jaguars…
Was machen wir hier, fern von norddeutschen Dünen und Sprotten? Ein kurzer, intensiver Sommerurlaub benötigt einen angemessenen Auftakt, und der findet hier in diesem lauschigen Städtchen statt. Eines der wenigen echten Idole meines bisherigen Lebens soll hier heute Abend in die Saiten seiner Gitarre greifen. Paul Simon, die kreative Hälfte von Simon and Garfunkel, spielt auf dem Moon and Stars Open Air Festival auf der Piazza Grande in Locarno. Der Platz ist wieder gesäubert von dem Müll, den die Fans gestern bei R.E.M. hinterlassen haben, und unsere Bäuche sind voll von schlechter Pizza und guter Laune. Um uns herum entspannte Menschen jeden Alters, bunte Häuser mit Fensterläden und genau das Wetter, was man sich an so einem Tag wünscht.
Rutsche ich zu sehr ins Off-Topic ab, wenn ich nun ins Schwärmen gerate? Darf man diesem winzig kleinen Amerikaner in einem AutoBild-Blog huldigen? *hach* Was für ein wundervolles Konzert. Paul Simon mag vielleicht nicht jedermanns Geschmack sein, für mich ist er eine Legende. Ich sehe DEN Paul Simon! Mit Gitarre und Band untermalt er seine Klassiker mit afrikanischen Rhythmen, bringt alte Bekannte wie Mrs. Robinson, The Boxer oder eine wunderschöne allein gespielte Version von Sounds of Silence. Seine Soloprojekte wie Graceland, The Boy in the Bubble oder You can call me Al lassen die paar tausend Fans auf der dämmerigen und schön beleuchteten Piazza pendeln zwischen Schwärmen und Tanzen, zwischen Tränen und Party. Paul Simon ist inzwischen steinalt, aber er bewegt mich noch mehr als vor 20 Jahren.
Ich sitze auf dem Balkon meines Zimmers, während die vielen Melodien in meinem Kopf kreisen. Unten vor dem Hotel kann der Audi nicht so recht einschlafen, weil auf der Promenade noch gut gelaunte Nachtschwärmer flanieren. Also zählt er Sterne. Über dem Lago Maggiore geht – fast schon kitschig – der Vollmond auf und beleuchtet gelblich die Schiffe und die Berghänge. Nicht zu fassen, dass ich noch immer in der Schweiz bin. Was für ein schöner Auftakt dieser kleinen Reise in einem großen Auto. Das muss ich erst einmal alles verdauen. Kennen Sie dieses Gefühl, völlig beseelt und mit dem Leben zufrieden zu sein? Konnte Ihr Auto auch schon mal nicht einschlafen? Morgen geht es weiter an die französische Mittelmeerküste, Ziel ist Saint Tropez. Aber vorher muss ich noch mit ein paar Gläsern Rotwein die Musik in meinem Kopf löschen.
Sandmann