Nachtschicht

Schauspiel in drei Akten

Ein Tag im September. Sonnenschein. Durstige Vögel piepen.
Ein gut aussehender Mann mittleren Alters hält ein iPhone am Ohr und läuft aufgeregt durch eine Wohnung in Altona Nord, Hamburg, Deutschland. „Oh klasse, ja klar ich bring alles mit. Ich glaube das mit dem Gurt und dem Maxi Cosi kann ich noch irgendwie, ist ja auch nicht so weit. Ja. Ja sicher. Ja, das habe ich auch dabei. Bettchen ist aufgebaut…“
Der Mann unterbricht die Verbindung und schaut sich in der hellen, kleinen Altbauwohnung noch einmal nachdenklich um. Das ist der letzte Moment zu dritt. Wenn er nachher wieder durch diese Tür gehen wird lebt hier ein vierter, kleiner Mensch. „Das Leben ist schon verrückt…“ murmelt er leise vor sich hin. Er hängt sich die Tasche um, nimmt die Babyschale, tritt auf den Hausflur und zieht pathetisch die Tür mit einem RUMMS hinter sich zu.

Akt 1 – Krankenhaus

Wir sehen ein altes, schwarzes Auto, was offensichtlich von niemandem auf diesem Planeten geliebt wird. Es parkt sehr prominent vor einem Krankenhaus. Draußen schickt ein nicht enden wollender Sommer seine warmen, wabernden Luftschwaden wie einen Strom aus trockener Lava durch die ruhigen Straßen. Der Mann tänzelt aus dem Wagen heraus, öffnet die hintere Tür, greift sich vom Rücksitz die Tasche und die Babyschale und summt leise ein Kinderlied. Vorbeikommende Passanten mit verhärmtem Blick sehen ihn fragend  an. Mit dem Hintern schubst er die Tür ins Schloss und drückt auf der Fernbedienung an seinem klingelnden Schlüsselbund den „schließen“ Knopf. Als nichts passiert, drückt er ihn noch einmal. Er schüttelt das kleine Teil und drückt noch einmal. Dann lässt er das Auto offen und schwebt euphorisch auf den Haupteingang zu, während er Selfies mit sich und der Babyschale vor dem Gebäude macht und dabei schmerzhaft über einen Blumenkübel stolpert.

Ein typisches Zweierzimmer mit unbequemen, funktionalen Betten. „Setz ihr lieber noch das Mützchen auf, falls es windig ist…“ Eine junge, blonde Frau mit halbfinnischen Gesichtszügen guckt den Mann liebevoll, aber müde an. In ihrem Arm liegt ein klitzekleines Stückchen bunter Stoff, aus dem oben zwei Ärmchen und unten zwei Beinchen rausgucken. Der Stoff schmatzt leise und grunzt dann wie ein kleiner Igel. Mit erklärendem Blick guckt der Mann in die Kamera und sagt, mehr zu sich selbst: „Das Sandmädchen 4.0 kommt heute zu uns nach Hause…“. Der Kameramann nickt gelangweilt und guckt auf seine Armbanduhr. Bald ist Mittag. Eigentlich will er schon längst wieder weg sein. Die blonde Frau und der Mann schultern die gepackten Taschen voller Kleidungsstücke in Größe 52, Windeln, bunten Kärtchen und einem Paar klitzekleiner Socken aus der Manufaktur freundlicher, christlich angehauchter älterer Damen. Wie das hier so schöne Strick-Tradition ist. Zu dritt schreiten sie ein wenig erhaben, vielleicht auch nur gerädert von drei durchwachten Nächten, über den großen Flur nach draußen. Der Mann umrundet geschickt den Blumenkübel. Jetzt bloß keinen Fehler machen.

Akt 2 – Automobil

Wir stehen auf den Parkplätzen vor dem Krankenhaus. Die junge, blonde Halbfinnin wirft dem Mann einen fassungslosen Blick zu. Mit der freien Hand deutet sie auf die geparkte Limousine, die von dem Mann fürsorglich gereinigt, gesaugt und für den wertvollen Transport vorbereitet wurde. „Warum holst du uns denn mit diesem schrecklichen Kasten und nicht mit dem Mercedes ab???“ In dem Gesicht des Mannes breitet sich eine leichte Enttäuschung aus. Er setzt heute andere Prioritäten. Sein Augenmerk gilt der Länge der Anschnallgurte.

Die Szene wechselt ins Innere des Fahrzeugs. In dem Mann macht sich eine unangenehme Erkenntnis breit, die nur die Männer verstehen, deren Freundin durchaus kritisch sein kann. Die vertikale Falte in der Stirn der Halbfinnin ist tief, und als er zugeben muss, dass in dem von ihm eigenmächtig ausgewählten Gefährt der Gurt hinten rechts irgendwie für die Babyschale zu kurz (oder er einfach nur zu blöd zur richtigen Anwendung) ist, wird diese Falte nicht glatter. War klar. Im Mercedes hätte das gepasst. Problemlos. Es werden dem Publikum von den Seiten große gelbe Pappschilder mit Fragen reingereicht. Auf einem steht: Sind Fondpassagiere im Raum Köln nicht dick? Das andere fragt: Waren das in den 90ern alles hagere Schlackse? Ein drittes klagt an: Wieso ist der Gurt zu kurz? Das kleine Stückchen Stoff gluckst unter seiner Mütze gegen den Wind. Wenn es könnte, würde es pfeifen wie ein Wasserkessel. Der Sommer ist voll da und hat auch in diesem September nicht vor, das Feld zu räumen. Die gemütliche Gegenwart des kleinen Mädchens erdet die beiden Erwachsenen, und sie gucken sich an, wie nur frisch gebackene Eltern sich angucken können. Schwenk auf das Cockpit, dann ins Gesicht des Fahrers.

Eine Stimme aus dem Off: „Als das viertelfinnische Sandmädchen geboren und später nach Hause geholt wurde lag Schnee“. Während die automatische Klimaanlage leise und schubweise kühle Luft in den warmen, belederten Innenraum fächert (der Regelwiderstand ist kaputt, das funktioniert im Mercedes auch besser) guckt der deutlich gealterte Mann mittleren Alters lächelnd auf die Straße und zappt durch ein paar Déjà Vus. Neben ihm gluckst und schnurchelt die neue Erdenbürgerin in der Babyschale (vorn ist der Gurt lang genug, so gerade eben), hinten beruhigt sich die blonde Halbfinnin langsam. Dem Publikum wird verdeutlicht, dass der hässliche Kasten nicht zu havarieren scheint und seine Aufgabe zu erfüllen gedenkt. Alles wird gut.

Akt 3 – Zu Hause

Ein Wohnzimmer im vierten Stock der Wohnung, die wir schon eingangs gesehen hatten. Eine aufgeregte Fünfjährige tanzt in einem türkisen Einhorn-Pyjama durch die Wohnung und scheint es nicht lassen zu können, an ihrem neuen Schwesterchen herumzupuzzeln. Während die hübsche blonde Frau sich um die 24/7 Milchversorgung der neuen Mitbewohnerin kümmert, definiert der gut aussehende Mann seine Energiespeicher angesichts multipler nächtlicher Aufwacher neu und süß. Er lächelt und schielt ein bisschen. Im Hintergrund ist Magenknurren zu hören. Der Kameramann flucht leise vor sich hin.

Die Kamera schwenkt auf den Nachttisch des Mannes. Wir sehen Comics, einen großen 800g Eimer Vanille-Schoko-Vla und einen doppelten Southern Comfort in einem finnischen Designerglas. Offensichtlich Nahrungsmittel, die nicht in den Rahmen einer ausgewogenen Ernährung passen, die aber für den Moment ihren Zweck erfüllen. Der Mann wirkt glücklich. Die Frau auch. „Wann kann ich sie denn mal wieder tragen??“ Die erstgeborene gemeinsame Tochter wanzt sich in permanenter Bewegung an ihre nur wenige Tage alte Schwester ran und wirkt auf den Betrachter wie der Mond in der Erdumlaufbahn. Alles ist neu, spannend und schön. Und schlaflos.

Schnitt. Mitternacht Es ist jetzt halbdunkel und friedlich im Raum. Durch das offene Fenster dringen die leisen Geräusche der niemals stillen Großstadt herein. Der Lichtschein der Straßenlaternen zeichnet warme Schatten auf die Wände. Ein warmer Wind rauscht leise in den Blättern der großen, alten Bäume. Der Mann, der inzwischen sichtbare Augenringe mit sich herumschleppt, ist hundemüde. Aber er schläft in diesem Moment trotzdem nicht ein. Neben ihm liegt das kleine Wesen und hält voller bedingungslosem Vertrauen seine Hand fest. Ganz fest. Dieser Moment der Stille scheint ihn mit Glück zu erfüllen. Er denkt über die vergangenen Jahrzehnte seines Lebens nach, über Höhen und Tiefen und das große runde Rad des Daseins, das sich immer weiter dreht. Einmal noch von vorn. Als die Kamera im Dämmerlicht näher zoomt sieht man den Mann lächeln. Er ist müde, aber sehr glücklich, an diesem Tag im September.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

13 Antworten zu Nachtschicht

  1. Gregor sagt:

    Ach ja….schön geschrieben!(…ich hatte zum Glück zur Abholung von Frau und Willi gleich den alte Mercedes genommen..;) ..der ja ohne Klima ist deswegen….volles Verständnis für die Situation.Viel Spaß und eine tolle Zeit Sandmänners!

    • Sandmann sagt:

      Ay Gregor,

      vielen Dank 🙂 Es sind ja wesentlich mehr SandMÄDCHEN als SandMÄNNER, da liegt die Stil-Latte leider sehr hoch. Ich revangier mich mal damit, dass ich IHREN Mercedes am Heck schweiße 😉 Ist ja nochmal alles gut gegangen.

      Rock’n Roll
      Sandmann

  2. Lindex sagt:

    Herzlichen Glückwunsch den gut aussehenden Eltern zur neuen Tochter!

    Meine Tochter ist auch im Youngtimer von der Entbindung abgeholt worden (Gurte hinten lang genug!) und dank dieser frühkindlichen Konditionierung möchte sie später mal genau so ein Auto fahren. Nur mit Elektromotor….

    Gute Erholung erstmal!

    • Sandmann sagt:

      Ay Lindex,

      danke, danke 🙂 Das mit dem gut aussehen stand lediglich im Drehbuch, mit mir wurde da ein Schauspieler gecastet, der dieser Rolle nicht ganz gerecht wird 😀 Aber was bei mir an Schönheit fehlt reißt die Mutter wieder raus. Aber die zeige ich euch genau so wenig wie die beiden kleinen Sandmädchen. Die bleiben incognito…

      Als nächstes werden im Taunus hinten Gurte nachgerüstet. Den Scorpio auf Dauer… ich weiß nicht was das mit den Geschmackssynapsen macht 😉

      Ich erhole mich. Liebe und Fröhlichkeit sind doch die beste Erholung, wer braucht schon Schlaf?
      Sandmann

  3. der skipper sagt:

    Sehr schön geschrieben. Erinnert mich an meine Fahrt zum Spital um Frau und frischgeborenen Sohn abzuholen. Mann steht vorm Haus und fragt sich: Der langweilige Mazda oder der alte Mercedes?? Und ja, die Gurte des Mercedes waren zu kurz für die Babyschale
    Aber auch das ist ein Grund warum man an diesen alten Autos irgendwann emotional festklebt.. Keine Ahnung ob ich mir die Arbeiten an der Karosse in den Jahren danach zugemutet hätte ohne diesen eine Tag im November, an dem ich Frau und Sohn abgeholt habe.
    Viel Glück und alles Beste für Deine Familie!

    • Sandmann sagt:

      Ay Skipper,

      oh ja, es sind tatsächlich GENAU diese Momente, die ein wertloses Auto wertvoll machen. Trotzdem gebe ich meine Karren immer wieder ab, irgendwann. Schon komisch. Mal sehen ob der Scorpio mir auch irgendwann die Nerven zerstückelt, dann lernt auch er fliegen. Sicher bin ich mir nur beim Granada (den habe ich nun seit 1994, den jetzt abzugeben wäre großer Quatsch) und beim Taunus (auf den habe ich 20 Jahre gewartet und drei Jahre gespart).

      Wir grooven uns jetzt mal ein. So viele Frauen, wie gleiche ich das nur wieder aus? 😉
      Sandmann

  4. Micky sagt:

    Hach, da bekommt man ja fast Pipi in den Augen vor lauter Liebe, die durch diesen Beitrag aus dem Bildschirm fliesst! Alles Glück der Erde euch und eurem neuen Familienmitglied.

    • Sandmann sagt:

      Ay Micky,

      ohne diese bedingungslose Liebe würde ich es gar nicht ertragen, nachts eine Stunde durch die dunkle Wohnung zu stapfen, während die Kleine auf meinem Unterarm im „Fliegergriff“ vor sich hinschimpft. Das finnische Blut ihrer Mutter hat sie sehr immer-hungrig und sehr kritisch werden lassen. Ich bin gespannt, wohin diese Reise geht 😉

      Müde, aber glückliche Grüße
      Sandmann

  5. Mick-Kiel sagt:

    Hi Sandmann,
    auch von mir einen ganz herzlichen Glückwunsch!

    Einiges kommt mir bekannt vor… Auch ich hatte damals (schon 10 Jahre her..) als eine der ersten Aktionen in meinen damaligen 78er Citroen CX GTi hinten einen Gurt für den Kindersitz eingebaut.
    Vom Krankenhaus habe ich die Damen damals mit meinem XM V6 geholt, der hatte den standesgemäßen Komfortlevel ;).

    Also alles Gute euch allen!

    • Sandmann sagt:

      Ay Mick,

      vielen Dank 🙂 WOOOHHHH ja wenn ich mit einem XM vorgefahren wäre, das wäre eine andere Nummer gewesen 😉 Dann hätte ich wohl weniger Schelte bekommen.

      Im Moment entpuppt sich der Daimler als zuverlässigstes Familienauto. Mal wieder. Der Taunus ruft nach der HU und müsste zwei neue Endspitzen bekommen (die winkt kein Prüfer durch), und der Scorpio vermisst immer noch den vierten Gang. Aber fährt wenigstens. Ich brauche Zeit Zeit Zeit die ich nicht habe 🙁

      Sandmann

  6. bronx.1965 sagt:

    Ave Sandmann,

    Glückwunsch auch von mir! Auch wenns schon länger her ist, solche G’schichten stecken ja schon mal in der Pipeline fest.
    Aber, was mich stutzig macht, 5x die Erwähnung „der gutaussehende Mann“, des klingt jetzt a bisserl eitel. . .

    Frage daher: ich bin ja älter, braucht man diese Art der Betrachtung heute oder ist es ein Stilmittel der Geschichts-Erzählung, welches mir entgangen ist? 😀

    Grüße nach Norden!

    • Sandmann sagt:

      Bester Bronx,

      na du weißt doch, dass ich mich als „Marke“ generell selbst abfeier. Die Seite ist ein einziges Fishing for compliments, und wenn mir schon meine Frau nicht sagt, was ich für ein toller Kerl bin dann mach ich das eben selbst. Und ja, ein Stilmittel ist es außerdem, hat doch geklappt 😉 Ich geiler Typ…

      Lass uns beizeiten mal wieder quatschen. Ich hab so lange nichts von dir gehört…
      Sandmann

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