Maskierte Weihnachten

Jetzt kann das Christkind kommen

Süßer die Turbos nie klinget als zu der Weihnachtszeit. S‘ ist, als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud‘. Es mäandert eine Menge Gesang dieser Tage durch meinen Geschichten, auch ohne den Barden aus dem linguistischen Schrauberartikeltrio. Es weihnachtet in Zeiten des Virus. Welche psychologischen Blüten die vergangenen zwei Jahre mit uns allen trieben und was Abstand, Einschränkung und Kulturlosigkeit mit uns gemacht haben ist eine abendfüllende Geschichte. Aber eine andere. Mein zweitgeborenes Töchterchen und ich halten an schönen Traditionen fest wie Schiffbrüchige an historischem Treibholz in einem Ozean aus selbstüberzeugter Aggression. Endlich ist wieder Weihnachten in meiner Heimatstadt Uelzen. Wir sind mittendrin, wenn auch nur für einen kurzen Abend, eine kurze Nacht und einen kurzen Morgen.

Siiiiiiiiii und? Hört ihr die Engelein singen?

Tunnelblick

Der Turbolader, der den 2.0 Liter Benzinmotor meines schon fast 300.000 Kilometer alten Citroën XM beatmet, ist noch der erste. Soviel mal zu den immer kaputten Franzosenkarren. Klinget mit lieblichem Schalle über die Meere noch weit. Dass sich erfreuen doch alle seliger Weihnachtszeit. Über uns die Elbe, ja, die fließt bei Cuxhaven ins Meer. Es ist Freitag Nachmittag, ich werde gefahren 🙂 Das ist einer der Vorteile von älter werdenden Kindern, sie wollen gern Auto fahren. Ich fläze also auf dem geheizten Leder-Alcantara-Sessel, spiele am Temperaturregler rum und kann mich nicht entscheiden, ob ich Elton John oder Simply Red hören will. Mira fläzt vergleichbar, will nach weniger als 20 Kilometern auch einen XM haben und genießt ganz besonders die lang durchschwebten Bodenwellen südlich des Elbtunnels. Ach du Hydractiv Fahrwerk. Du erstes elektronisch geregeltes Serienfahrwerk der Welt. Sowas wie dich bauen sie heute einfach nicht mehr.

Alte Männer die sich fahren lassen

Heute wird es besinnlich und weniger autolastig. Die älteren von euch kennen das schon, Ich bin im niedersächsischen Städtchen Uelzen aufgewachsen, wurde mit 12 Jahren dort rausgerissen und kehre regelmäßig zurück. Wie ein Heimat-Bumerang 🙂 und das schon recht lange. Im Stadtkern werden jedes Jahr weitere Traditionsgeschäfte durch Handyshops, Backshops und Apotheken ausgetauscht. Ich frage mich, ob die Menschheit eines Tages ausschließlich von Mobilfunkverträgen mit Internetflatrate, billigen Weizenbrötchen aus industrieller Massenproduktion und Kopfschmerztabletten leben kann? Aber ich mag’s hier. Die kleinen, alten Gebäude kuscheln sich gemütlich aneinander und gruppieren sich rund um den großen Kirchturm, der ab und an bimmelt. O, wenn die Glocken erklingen, schnell sie das Christkindlein hört. Tut sich vom Himmel dann schwingen, eilet her nieder zur Erd‘. Und da sind wir doch gern dabei.

Da sind wir wieder

In diesem Jahr ist anders als alle anderen bisher. Weihnachten 2019 waren wir zuletzt mit dem Taunus hier. Irgendwie… war da noch alles gut, und ich mopperte sogar noch ein bisschen mehr über den Verfall des Einzelhandels. Inzwischen schwingt sich die weltweite Pandemie von Welle zu Welle, unser aktueller Peiniger heißt die Omikron Variante. Der Weihnachtsmarkt und der Einzelhandel in Niedersachsen war auf 2G+ eingeschworen, also Geimpft oder Genesen plus einen aktuellen, negativen Test. Wir zwei sind Geimpft und Getestet, und ich bin seit heute Mittag sogar Geboostert (Himmel diese Worte…). Parallel hat das Oberverwaltungsgericht die 2G Regel für Niedersachsen eben gerade wieder gekippt und eigentlich weiß niemand jetzt so recht, was Phase ist. Hauptsache Glühwein. Wir checken mal im Hotel ein.

Hier gehören wir wohl hin.

Eigentlich wollten wir klassisch bei meinem Freund Olaf zu übernachten. Vor allem, um den Abend mit viel zu viel Wein ausklingen zu lassen. Aber das Leben dreht nicht nur zwischen Kiel und Hamburg seine Kapriolen, auch in Uelzen ist nicht immer alles bunt und Konfetti. Also habe ich kurzfristig das traditionelle Balkonzimmer im Hotel Stadt Hamburg gebucht und unseren gemeinsamen Abend klein und nach hinten offen gehalten.

  • Joe ist in Wolfsburg bei seiner Weihnachtsfeier.
  • Markus liegt mit Grippe im Bett.
  • Schwester Jenny ist krankgeschrieben.
  • Tobi muss noch arbeiten.
  • Klaus ist zumindest bei WhatsApp abgetaucht.

Dieses Jahr wird es also eine Stadt der wenigen Engel, aber das passt zu diesen seltsamen Zeiten. „Schön, Sie wieder als unseren Gast begrüßen zu dürfen. Das Balkonzimmer, wie versprochen. Mit Badewanne.“ Man kennt mich hier inzwischen 😀 Das fühlt sich irgendwie… schön an. Der Citroën schlummert knackend und sirrend im trockenen Parkhaus. Mira und ich stiefeln ein wenig durch die beleuchtete Stadt und gucken zu, wie sich Josef und Maria im Kreis drehen. Als würden sie tanzen.

So langsam kommt Weihnachtsstimmung?

In den vergangenen zwei Jahren haben viele liebe Menschen um mich herum ihren Job, ihren Verstand und etliche ihr Leben verloren. Ich definiere daher Besinnlichkeit neu. Hier, mitten in meiner weihnachtlich beleuchteten Kindheit, wird deutlich wie krass sich die Welt in kürzester Zeit verändert hat. Es ist wenig los. Wer sich zu nahe kommt stülpt die Maske über, und Maske bedeutet hier konsequent der FFP2 Schnabel. Einige Buden haben schon zugemacht oder gar nicht erst geöffnet. Es hängen Schilder in den dunklen Fenstern, die von wirtschaftlicher Not und Insolvenz erzählen 🙁 Diese einst so gesellige, fröhliche Veranstaltung für Kinder und Erwachsene wirkt wie ein Endzeitszenario. Die Band spielt bis zuletzt. Ich kann jeden verstehen, der sich jetzt in die Religiosität zurück zieht. Der versucht, Trost bei einer nicht zu fassenden Macht zu finden, weil man der großen Realität sonst nichts mehr entgegen zu setzen hat.

Die Wünsche werden nicht weniger

Wir frönen hingegen heidnischen Bräuchen. Was für ein wundervoller Aberglauben, dass Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man die Münze des Uhlenköpers reibt. Für mich gäbe es eine Menge zu wünschen. Mich widern inzwischen die Prediger des schlechten Gewissens extrem an. Da wird einem von allen Seiten gesagt, so schlimm sei das alles nicht. Anderen gehe es noch VIEL schlechter als uns. Ja, ich bin ein privilegiert aufgewachsener, weißer Junge in einer wohlhabenden Gesellschaft. In anderen Ländern verhungern Menschen, werden umgebracht und erfrieren einsam auf den Straßen. Gesundheitssysteme, so es sie denn gibt, kollabieren. Menschen ersticken, auf dem Bauch liegend, mit einem Schlauch im Hals.

Aber vor zwei Jahren ging es mir persönlich hier in diesem privilegierten Land WESENTLICH besser. Ich werfe niemandem diese Pandemie vor. Ich kann mich nur auf das verlassen, was Experten empfehlen, weil ich selbst keiner bin. Es geht mir nicht gut. Die schleichende Isolation über zwei Jahre, die fehlenden Konzerte und Feiern, das zerfrisst meinen Optimismus. 🙁 Meine Definition von Besinnlichkeit: Ich sehe meine lieben Freunde, spreche mit ihnen über Kummer und Freude, über ein Leben danach und über den plötzlichen Tod von geliebten Menschen. Und das alles für einen kurzen Moment sogar ohne Maske, weil wir hinter dem Uhlenköperdenkmal Glühwein trinken.

Alte Freunde mit Nachwuchs

Hui. Der Glühwein ist gut. Der ist erstaunlich gut 🙂 Jetzt habe ich vor lauter Lamentieren über Menschen, die mir sagen wollen, wie gut es mir gefälligst zu gehen hat, das Singen vergessen. Wie sie gesungen in seliger Nacht. Wie sie gesungen in seliger Nacht. Glocken mit heiligem Klaaaa_haaang klinget die Erde entlang. Genug über meine Befindlichkeiten während einer Pandemie. Ich denke, jeder von euch wird sich seine eigenen Gedanken machen. Wir alle müssen da durch, und es wird niemandem helfen, gegen „die da oben“ zu wettern. Da ist eine Menge schief gelaufen, aber ich denke keiner von uns hätte es besser gemacht.

Also sind wir heute die besagten Schiffbrüchigen, die sich am Treibholz festhalten. Dieses Treibholz sind meine Freunde und Freundinnen. Menni, Jette, Olaf und Michelle. Ob mit oder ohne FFP2 Maske ist in diesem Fall doch unerheblich. Hey – man bekommt hier ein schmuckes rosa 2G Armband, mit dem man sich überall das wiederholte Vorzeigen des Impfnachweises spart. Und was 200 Auserwählten den Eintritt in den abgesperrten V.I.P. Bereich (ist glaube das bedeutet: Virus Ist Passé) direkt vor den kletternden Engeln ermöglicht! Maskierte Tänzer des Lebens auf einer abgesperrten Bühne vor dem Rathaus.

Zurück zur Endzeit

Eine junge Frau spielt wunderschön Trompete. Mir wird ganz warm ums Herz. Das alte Rathaus in Uelzen wird jeden Dezember zu einem festlichen Weihnachtskalender umgewandelt, und jeden Abend um 18:00 Uhr wird eines der Fenster von Engeln enthüllt. Hinter den jungfräulich weißen Laken verbirgt sich täglich ein Teil eines Jahresthemas, 2021 ist es die von der Künstlerin Ulrike Bats illustrierte Stadtgeschichte. Dass wir vor der Absperrung stehen hat sich total gelohnt, mit uns sind hier vielleicht noch 10 andere Geimpfte oder Genesene Menschen. Alle anderen stehen hinter dem Zaun und sehen genau so gut 😉 Bei den lustigen Jungs, die uns die V.I.P. Armbänder umgezwirbelt haben gab’s auch Liederbücher… Jippie! Ich mag Weihnachtslieder. Sie bewegen mich. Manchmal bewegen sie mich sehr. Seit mein Opa kurz vor Weihnachten 1991 starb kann ich „Oh du fröhliche“ nicht mehr ohne Tränen in den Augen singen, stehend, als allerletztes Lied im Weihnachtsgottesdienst.

Gefiltertes Singen

Nicht weniger Herz rausreißend ist „Stille Nacht“, eigentlich dachte ich das singt man nur direkt am Heiligen Abend? Die Trompete stimmt an, und der ausgedünnte V.I.P. Bereich und alle anderen singen leise los. Gemeinsam. Alle zusammen murmeln in ihre Masken. Ich sitze plötzlich auf einem grünen Teppich in einem vertäfelten Wohnzimmer. Am leicht überfrachteten Tannenbaum brennen Kerzen, es duftet nach Orangen und Plätzchen, und mein Papa Kalle und meine Mama Inge singen mit meiner Schwester Anita und mir „Stille Nacht“. Auf dem Sofa sitzen meine Oma Helene und mein Opa Gerhard und summen mit. Wir sind eine Familie, von der ich fest glaubte, dass sie unsterblich und unzerstörbar sei. Weil es sich für den kleinen, weißen, privilegierten Jungen so gut und so richtig angefühlt hat. So beschützend.

Beides erwies sich als falsch. Wir sind weder unsterblich noch waren wir unzerstörbar. Das Mädchen und der Junge wurden nicht beschützt. Nicht 1980, und auch nicht 2021. Christliche Nächstenliebe und die Vergebung leben nicht alle gleich. Ich weine singend meine FFP2 Maske nass und wünsche mir, in diesem Moment meine Schwester Anita ganz fest drücken zu können. Ich bin bei dir. Immer.

Für immer die Engel

Oh. Jauchzet frohlocket. Die Engel schweben um die Trompeterin herum und enthüllen das heutige Werk. Ein smarter Herr moderiert die Szene (ich weiß, dass es nicht der niedersächsische Ministerpräsident ist, aber ich hätte den trotzdem nicht erkannt). Das Bild zeigt den Turm der Marienkirche während des zweiten Weltkriegs in Trümmern. Ein amerikanischer Soldat schenkt Kindern Schokolade. Oder so. Ich trockne noch immer meine familiären Tränen mit der FFP2 Maske und beschließe, morgen in der Tourist-Information einmal nach diesen Bildern zu fragen. Ein weiterer smarter Uelzener liest anschließend eine kleine Weihnachtsgeschichte 🙂 Olaf murmelt, das sei der Chef seines Chefs. Hui. Ich bekomme Hunger. Zum Glück hat Michelle initiativ einen Tisch beim angeblich besten Vietnamesen der Stadt gebucht! Ich traute mich nicht. Ich habe komische Erfahrungen mit Tischreservierungen in Vietnamesischen Restaurants…

Vietnamesisch statt Bratwurst

Das Restaurant im Erdgeschoss unseres Hotels hieß einst „Astefix“ und war ein Pizza-Steak-Pasta-Curry-Crossover Ding. Die hatten alles, aber nichts richtig. Dann wechselten die Besitzer und verstanden mich nicht mehr, als ich anrief um einen Tisch zu reservieren. Jetzt wechselten die Besitzer erneut (aber nicht deshalb), und wir sitzen im Quan An Ngon Uelzen 🙂 Da ich kein Food-Blogger bin beschränke ich mich auf: Lecker. Reichhaltig. Freundlich. Olaf, Menni und Jette wollten zunächst noch den Weihnachtsmarkt kulinarisch aufmischen und gesellen sich etwas später auf eine gedämpfte Banane und ein Energiewasser zu uns. Was für ein schöner Abend, auch wenn die Themen, wie weiter oben angedeutet, nicht immer zum Lachen waren. Auf die Freundschaft. Weil jeder Tag zählt.

Nach dem zitierten Treibholz freue ich mich auf eine weitere Tradition in den Zimmern des Cityhotels Stadt Hamburg, die der Hauptstraße zugewandt liegen: Eine Badewanne mit viel zu viel Schaum 🙂 Etwas zu heißes Wasser, davon auch etwas zu viel, und ein kleines Glas Rotwein. Vielleicht… wird doch alles wieder gut.

Chill refill

Die Ähnlichkeit meiner Uelzener Weihnachtsgeschichten ist ein bisschen Programm. Ich brauche diese Anker, die immer noch da sind. Die Stadt, meine Freunde, die Badewanne. Das sind Felsen in der Brandung. Und es ist ja auch ein bisschen lustig, wenn ich über die Jahre die Bilder vergleiche und feststelle, dass alle älter werden. Ich erstaunlicherweise auch… Ich bin noch nicht müde und sitze nach dem Bad noch ein wenig am Fenster und gucke auf die beleuchtete Straße. Mein Töchterchen schläft erschöpft von der Woche im großen Bett. Da draußen sind kaum Menschen unterwegs. Gute Nacht, mein Uelzen. Ich kuschel mich unter die Bettdecke und gebe ein weiteres Mal die Hoffnung nicht auf.

zzzzzzzzzzz

Was macht ein guter Papa an einem Samstag Morgen? Er schlurft leicht bekleidet in den Frühstücksraum und holt seiner Tochter und sich den ersten heißen Kaffee des Tages ins Bett!

Guten Morgen, Welt.

Bevor wir engelsgleich mit singendem Turbolader auf Weihnachten zudriften haben wir noch eine kleine Mission zu erledigen! Ich habe mir schon lange keine neue Gitarre mehr gekauft. Im tollen Art of Music sind wir viel zu oft fündig geworden, und gegen Pandemie-Depressionen hilft definitiv ein bisschen Klang-Shopping. Ich habe ein ganz bestimmtes Modell vor meinem inneren Auge, eine Ortega mit Einlagen im Griffbrett und dem Korpus. Irgendwas mit einem Mond…? Die hing da jedenfalls mal an der Wand. Und vielleicht ist Mira außerdem auch ein bisschen anfällig für E-Pianos, wenn sie höchst fachmännisch bedient werden… Wer ist dieser Billy Joel? Und was macht er in Uelzen? Unter den Masken könnte jeder stecken.

Alles ist Musik

Ich bekomme allerdings keine adäquate Beschreibung meiner Kopf-Gitarre hin 🙁 und die Jungs haben das Ding nicht mehr da. Inzwischen, während ich das hier schreibe, bin ich schon etwas schlauer und verfasse morgen mal eine Mail mit einem Screenshot. Bei der „Gitarren und Eulen“ Geschichte ist sie noch nicht dabei… aber die betreffende Klampfe mit dem Mond hängt bei „Ausverkauf der Heimat“ mittig an der Wand. Hach 🙂

Einen Retro-Besuch muss ich noch durchziehen. Es zieht mich immer wieder magisch in das ehemalige Kaufhaus Klappenbach, was in seinen Mauern jetzt unten eine Müller Drogeriemarktfiliale und oben das Ceka Kaufhaus beherbergt. Wo mal ein Fahrradständer war ist jetzt eine Lastenrad-Parkzone. Der kleine Jens fährt aufgeregt eine Rolltreppe hoch, hüpft tap tap tap einmal rum und fährt noch eine Rolltreppe hoch. Ein ins Gehirn magisch eingebrannter Weg, nahezu ein Pilgerpfad. Dann trippel ich euphorisch rechts an der Kasse vorbei, um die Ecke nach links und bin mitten im riesigen Spielwarenparadies so kurz vor Weihnachten 🙂

**PLOPP**

Ich weiß, dass die Spielwarenabteilung hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr ist. Heute werden hier statt TCR Rennbahn, Airfix Twin Prop Flugzeug und SIKU Trucks mit einer kompletten Aral Tankstelle auf dem Tieflader nur Messer, Geschirr und Haushaltsgeräte feilgeboten. Aber ich kenne die Form des Raumes, die Wände, die Pfeiler und die Kassettendecke. Hier ist es gewesen. Seufz. Okay, das reicht schon, raus hier.

Alles ist anders.

Die Damen in der Tourist Information sind schlecht vorbereitet. Ein Ur-Uelzener inmitten von Uelzen-Merchandising, der gerade eben nicht 850 Euro für eine Gitarre ausgegeben hat – das hat Potenzial. Ich kaufe das Buch mit den Kunstwerken, eine Stadtgeschichte mit vergleichenden Bildern von damals™ und heute, Teelichter mit goldenem Schiff, eine Uelzen Skyline zum selbst Basteln aus Pappe… Und noch ein paar Sachen, über die ich hier nicht schreibe weil ein lieber Mensch, dem ich das schenken will, vielleicht mitliest 🙂

Auf der langen „Nagelbrücke“ über den Ilmenaupark habe ich als kleines Kind oft die dicken Nägel gezählt, mit denen die Bohlen auf den Stahlträgern befestigt wurden. Das habe ich euch auch schon mindestens sieben Mal erzählt. Es war unser weihnachtlicher Weg zur Kirche, und eigentlich lag immer Schnee 😉 Immer! Früher lag immer Schnee. Glaube ich. Sehr metaphorisch laufen Mira und ich diese Brücke jetzt in die andere Richtung. Weg von der Kirche und dem Adventskalender, weg von den Erinnerungen und der Innenstadt. Weg von den klingenden Glocken, aber singen können wir trotzdem. Segnet den Vater, die Mutter, das Kind. Segnet den Vater, die Mutter, das Kind. Glocken mit heiligem Klang klinget die Erde entlang. Und was auch immer euch heilig ist – haltet es fest und liebt es.

Über die Nagelbrücke

Diese kleine Auszeit war anders als die anderen. Aber nein, irgendwie auch wiederum nicht. Und das ist gut so. Ich bin nachdenklich, ich bin verärgert und ich bin traurig. Corona lässt normale Menschen bekloppt werden. Es macht aus friedlichen Bürgern aggressive Hasser. Es treibt liebe Freunde in krude Verschwörungstheorien. Wir schrägen Vögel von damals™ und heute sind alle noch immer hier, und die Stadt mit meinen   Wegmarken ist es auch. So bescheuert das klingen mag – aber der gestrige Abend und dieser ruhige Morgen geben mir wieder die Kraft, nach vorn zu gucken. Einmal mehr. Und auch meine kleine, na ja, gar nicht mehr soooo kleine Tochter wirkt beseelt. Vielleicht ist sie auch immer noch überfressen vom leckeren Frühstück. Aber ich glaube sie ist beseelt.

Underground Xmas

Zurück nach Kiel fahre ich das französische Baguette. Der Turbo singt Weihnachtslieder. Sie schaut aus dem Fenster in eine Welt, die wir uns vor zwei Jahren so nicht hätten vorstellen können. Diese Welt konfrontiert uns mit den großen Sorgen und Problemen, und sie konfrontiert uns auch mit kleinen, stillen Ängsten. Die Ängste, von denen andere gar nichts mitbekommen, weil sie nicht in den Abendnachrichten gezeigt werden. Irgendwann ist wieder mehr Liebe da. Wir dürfen nicht aufhören, wie Kinder an das Gute zu glauben. Aber wir müssen aufhören, andere für Ereignisse verantwortlich zu machen, die wir selbst gar nicht überblicken können. Ich bringe jetzt eine von vier geliebten Töchtern nach Hause, und ich werde immer bedingungslos für meine Kinder und die Menschen da sein, die ich liebe. Besinnliche Weihnachten euch da draußen.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

2 Antworten zu Maskierte Weihnachten

  1. Bronx.1965 sagt:

    Sandmann

    Besinnliche Weihnachten auch Euch.

    Groß geworden ist sie. Die Zeit vergeht. . .

    Auch mich nervt die aktuelle Lage sehr. Freunde die ich von Kindesbeinen an kenne verlieren ihre Existenzen, Corona-Hilfen kommen spät wenn sie denn kommen. Trotz allem pandemischen Geschehen funktioniert die Bürokratie immer noch mustergültig und nach Schema F. Ehemalige Kollegen und Freunde sind an dieser Scheiße hopps gegangen. Ich hab in der Familie Leute, die im Gesundheitswesen arbeiten, auf Station in der Klinik, als Hausarzt – sie alle ersticken schier in Arbeit. Eine wahnsinnige Belastung von der ich nur die Auswirkungen häuslicherseits mitbekomme. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Mehr gehört hier auch nicht her.

    Weihnachtsmärkte waren noch nie so mein Ding, Feuerwerk und Böller auch nicht. Doch trotzdem stecken hinter all dem Existenzen. Das ist echt übel.

    Wenigstens hast du mit deiner Tochter ein Stückchen Beständigkeit genießen können. Wenngleich unter absurden Umständen. Das sollte in diesen trüben Tagen als Motivation für Optimismus reichen. Die kleinen Äste an die man sich klammert. . .

    Alles andere erspare ich mir hier. Nur soviel noch:
    Nie hätte ich geglaubt dass sich eine Gesellschaft so derart spalten kann und lässt. Das derart viel Dummheit dazu in der Lage ist. Meine Meinung zu den (un-)sozialen Medien kennst du ja.
    Wenn die Sonne des Wissens tief steht werfen selbst geistige Zwerge lange Schatten.

    Passt auf Euch auf und habt trotz allem eine besinnliche Weihnacht. 😉
    Bronx

    Sich angesichts all dieser Dinge seinen Optimismus zu bewahren, fordert schon sehr.

    • Sandmann sagt:

      Ay Bronx,
      danke für deine lieben Wünsche, die ich jetzt etwas zeitversetzt mit ebenso lieben Wünschen für ein neues und bestimmt gutes Jahr 2022 zurück gebe!
      Ich hab’s im Text ja angedeutet und werde es nicht episch auswalzen, aber mich erschreckt vor allem die steigende Aggression aller „Lager“, der wachsende Egoismus der Menschen und das immer schlimmer werdende, absolut unreflektierte Nachplappern von anderen Behauptungen oder Meinungen. Niemand denkt mehr selbst nach. Es werden nur noch bekloppte Sprüche oder Bilder geteilt, die irgend einen Knopf bei einem selbst drücken. Und dann schreibt man drüber „GENAU SO!“ Allein die Spezialisten, die sich in diesen Zeiten damit öffentlich rühmen, nicht geimpft zu sein und das mit einem Davidstern in ihrem Profilbild demonstrieren. Da fehlen mir echt die Worte.
      Aber wie du schon schreibst – ich halte meine kleine Welt beisammen so gut es geht. Wir haben uns viel vorgenommen für das neue Jahr. Nicht alles war schön in den letzten Wochen, aber das Leben geht weiter. In diesem Sinne. Lass uns nach vorn gucken!
      Sandmann

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