Eine bunte Reise in die Abgründe der Psyche
Ay Gemeinde.
JA. Wir haben es getan. Eine kleine Blog-Community, unsere Familien, unsere Freunde und Bekannten erklärten den Örg und mich (zurecht) für völlig bescheuert. Trotzdem haben wir den alten K70 auf die allerletzte Minute einigermaßen fahrtauglich bekommen. Und sind unterwegs. Wir schreiben das Jahr 2008. Es ist 35 Jahre her, dass meine sich in Auflösung befindende Familie mit einem VW K70 Urlaub auf dem Bauernhof machte. Im Pfälzer Wald, auf dem Stüterhof. In stilsicherer Klamotte rollen wir deshalb heute mit einem 37 Jahre alten Volkswagen durch die Republik, auf den hoffentlich noch verbliebenen Spuren von Kalle, Inge, Anita und dem kleinen Sandmann.
Wenn schon, denn schon. Da zunächst ein Kurzzeitkennzeichen gekauft werden muss, beginnt die Reise in aller Frühe an diesem sagenhaften Montag auf der kieler Zulassungsstelle. Da kennt man mich ja schon, also gehen wir kein Risiko ein und laufen um 7.15 Uhr direkt in unseren 70er Outfits ein.
Auch wenn die gezogene Wartenummer nicht einmal im Ansatz etwas mit der stagnierenden Aufruftafel zu tun zu haben scheint, werden wir irgendwann gegen 8.00 Uhr in ein anonymes Hinterzimmerchen gebeten. Und halten kurz darauf die entspannende Erlaubnis in der Hand, den KaSi 5 Tage lang versichert und zugelassen bewegen zu dürfen. Die erste von 42 Hürden auf dieser Reise ist genommen.
Prägen Sie sich diese Nummer ein. Damals ein Wunschkennzeichen, heute ein Wunschkennzeichen. Papa Kalle favorisierte 1973 die Anfangsbuchstaben seiner Vornamen auf der Blechtafel, und um möglichst authentisch zu sein nehmen wir zwei eben solche Schilder mit. So. Krawatten sitzen, die Synthetik-Hemden spannen ein wenig um den alternden Oberkörper und die Stoffhosen geben allen wichtigen Organen Luft zum Atmen. Dicke neue Retro-Jacken für schlechtes Wetter und einen ganzen Haufen Zeugs aus der damaligen Zeit lagern im riesigen Kofferraum der NSU-Entwicklung. Der Tank ist voll. Ich denke, es kann losgehen. Gentlemen, start your engine.
Strecke machen. Per Mail teilte man mir seitens des Stüterhofs mit, dass wir bis 19.00 Uhr heute Abend noch warmes Essen bekommen könnten – und für das warme Essen ist der Pfälzer Wald immerhin berühmt berüchtigt. Jetzt ist es 9.00 Uhr. Die Zeit dazwischen sollte für 700 Kilometer ausreichend sein, zumal Petrus sich von seiner besten Seite zeigt und die goldene Oktobersonne über die bunten Bäume zaubert. Ganz wichtig: Nicht bremsen. Die vorderen Bremssättel sind leidlich gangbar gemacht, aber irgendwie steckt noch Luft in den Leitungen der hinteren Trommelbremsen. Passiv fahren und nur zart dosiert die Handbremse einsetzen spart Benzin und ist bei schwachem Verkehrsaufkommen kein Problem‚ meistens.
Was riecht denn da? Ist das nicht verbranntes Gummi? Vernimmt die zwischen den Koteletten sitzende Retro-Nase nicht irgendwie einen Hauch Benzin? Schon kurz hinter dem Elbtunnel sind wir uns nicht mehr so sicher. Es gibt diese Faustregel, die besagt, dass beunruhigende Gerüche im eigenen Auto fast immer von einem voraus fahrenden Fahrzeug kommen. Aber wer vertraut schon gern Faustregeln? Außerdem dreht das Triebwerk im mittleren Drehzahlbereich ein wenig müde, schauen wir demnach auf dem Rastplatz einmal unter die Motorhaube. Alles ist gut, kein Gummi brennt, kein Benzin leckt. Nur ein grüner Schlips hängt gefährlich weit in den Motorraum. Mit dem Klassiker „Jetzt helfe ich mir selbst“ sind die Gemisch-Schrauben des Solex-Doppelvergasers zügig lokalisiert. Mutig ein wenig hier gedreht, optimistisch ein wenig da geschraubt, leidlich den Rundlauf für ausreichend befunden – und weiter Strecke machen.
Ihr schönstes, passiv bremsbefreites Dahingleiten ist jäh vorbei, wenn Sie vor einer Baustelle ein Stauende überrascht! Örg tritt mit Schweißperlen auf der Stirn erstmalig beherzt in die Eisen, was der KaSi auch mit guter Verzögerung quittiert. Nur‚ jetzt ist sie wieder fest, die hintere Trommelbremse. Es rubbelt und schubbert, es verzögert und erhitzt. Wir müssen einen weiteren Boxenstop einlegen.
Nach dem Ablassen einer nennenswerten Menge heißer, zischender Luft aus dem rechten hinteren Entlüftungsventil bin ich trotz Staatsexamen in der Schulphysik wieder ein wenig weiter und schwöre mir darüber hinaus, nach unserer Tour die gesamte Bremsanlage durch Neuteile zu ersetzen. Ein paar Hammerschläge auf die mürrisch tickenden Bremstrommeln, und der Wagen ist wieder frei. Die Vergangenheit ruft laut. Es kann weiter gehen. Strecke machen.
Wo müssen wir eigentlich lang? Immer nach Süden. Die A7 heißt in unserer Straßenkarte von 1971 noch A10 und führt uns über Hamburg, Hannover, Kassel und Göttingen auf die A5 nach Frankfurt. Auf meine Lisa, also mein Navi, haben wir bewusst verzichtet. Der Pfälzer Wald wird sich auch so finden lassen, oder? Damals ging das doch auch… Die goldene Nachmittagssonne wabert durch die gewächshausgroßen Fensterflächen, unsere Acrylhemden saugen nicht ein einziges Schweißmolekül auf und meine Finger pochen innerlich dumpf, getränkt und entwässert mit hygroskopischer Bremsflüssigkeit. Die Zeit läuft irgendwie weiter. Da die Batterien für unseren holzfurnierten Casettenrecorder die Mitarbeit verweigern, singen wir selbst. Bekannte Melodien aus Funk und Fernsehen. Smash-Hits von Dschinghis Khan, Udo Jürgens und Vicky Leandros. Die Texte kennt man irgendwie. Und wehe, es fällt etwas in den Fußraum! Oder man will womöglich die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach holen! Nein. Die fest eingestellten und weder auf- noch abrollbaren Gurte machen ein Lösen des Oberkörpers von der Sitzlehne immer wieder unmöglich! Argh.
Deutschland freut sich. Kaum ein uns überholendes Auto, in dem nicht lachende und winkende Menschen sitzen. Einige machen Fotos, andere gucken ungläubig und lassen sich hinter uns zurück fallen, um uns noch einmal überholen zu können. Wieder andere strecken den Daumen hoch. Sehen sie in uns den Ausbruch aus der Spießigkeit, das Symbol für einen gelebten Traum? Halten sie uns für hochbezahlte Schauspieler? Egal. Hauptsache, sie sind fröhlich…
Als die rote und die orange Plastik-Thermoskanne beim besten Willen keinen Kaffee mehr hergeben wollen, satteln Örg und ich auf klassische Naschis um. Brausepulveroblaten, Cola-Lutscher, Kaugummikugeln von Hitschler, Kinderschokolade und dazu Caprisonne. Momentan noch ohne die Koteletten, gedulden Sie sich bitte bis morgen. Das Leben kann so schön sein. Auch wenn ich meinen Gleichstands-1:1 Fußbremsen-Ausgleichs-Bremser hinlegen muss, der uns wie gehabt auf den nächsten Rastplatz bugsiert. Nun wissen wir ja, woran wir drehen und mit dem Hammer klopfen müssen.
Als die Abendsonne sich über Frankfurts Bankenviertel senkt und die Caprisonne wieder raus will, zeigt sich, dass 100 Stundenkilometer eine vermeintlich gute Reisegeschwindigkeit sind. Man fährt entspannt, allerdings kommt man nicht wirklich gut voran. Soweit in Sachen Strecke machen. Auf Höhe von Kaiserslautern verlassen wir kartografiertes Gebiet, werfen den alten Atlas auf den Rücksitz und vertrauen den Märchen des ausgedruckten google-maps Routenplaners. Das ist also der Pfälzer Wald. Eine Menge bunte Bäume, und das Licht verschwindet langsam dahinter. Hätte ich die richtige Telefonnummer gespeichert, hätte ich beim Landhotel Schoner bescheid sagen können, dass es später wird. Aber nein. Ich entschuldige mich bei dem perplexen fremden Mann am anderen Ende der Leitung für meinen Zahlendreher, und wir fahren weiter ins Ungewisse. Ohne Karte, nur nach Gefühl. Ein fast schon weibliches Vorgehen. Und eine Leitung ist das ja im Zeitalter der Mobiltelefone auch gar nicht. Alles wird gut. Ich bin unruhig und habe Hunger.
Wie ein Wrack bei einem nächtlichen Tauchgang erscheint in einer Linkskurve matt beleuchtet das erlösende Schild. Wir sind da! Es ist fast 19.30 Uhr, und es macht sich eine gewisse Nervosität in mir breit. Was erkenne ich wieder? Wie sieht die Pension, in der ich als 3 bis 7-jähriger Oster- und Herbstferien verbrachte, jetzt aus? Wir poltern durch das mir noch gut bekannte Maschendraht-Tor (damals mit einem roten Katzenauge dran), und der Wald reißt auf zu einer großen Lichtung mit ein paar Häusern mitten drin. Hier ist es gewesen. Hier haben wir damals gewohnt. Hier fand der letzte gemeinsame Familienurlaub 1979 ein jähes Ende. Verdammt, hier liegt seit damals ein Teil der Geschichte meines Lebens. Gänsehaut überspannt meinen ganzen Körper.
Eva Schoner, 28, hat den Laden hier übernommen. Anders als der K70 ist sie Baujahr 1980 und kann sich demnach nicht mehr an uns erinnern. Ihre Mutter sehr wohl, die uns mit stechendem Blick mitteilt, dass sie schon viel früher mit unserer Ankunft gerechnet hätte! „Äh, die Telefonnummer war…“ ach, egal. Wir bekommen eine phantastische Brotzeit mit hausgemachter Leberwurst, Schwartenmagen (klingt schlimm, ist köstlich!), Schinken und frischem Holzofenbrot. Dazu ein oder fünf prickelnde Bischoff Pilsener… Wir sind tatsächlich angekommen! Die Gedanken in meinem Kopf aber noch nicht. Die kreisen noch.
Wie weit draußen von allem in dieser Welt genau der Stüterhof ist, manifestiert sich in dem absoluten nicht-Vorhandensein eines Handynetzes. Keine Chance. Über ein W-LAN oder DSL reden wir hier ohnehin nicht. Wie soll ich denn da bloggen???
Ein Stück den alten Feldweg hoch, so sagt Eva uns, hätte man wieder Empfang. Das probieren der Örg und ich gleich aus, und tatsächlich, wir bekommen eine spärliche Gelegenheit, ein paar Nachrichten und Wortfetzen loszuwerden. Die beunruhigten Zweifler und ein lieber Mensch in Hamburg, der mir erstaunlich schnell ans Herz wächst, sind informiert. Und jetzt ab ins Bett.
„Ich hab aus den alten Unterlagen rausgefunden, welches Zimmer ihr damals hattet, es war immer das gleiche…“ Zimmer Nummer 3. Damals hieß es anders, aber es ist tatsächlich genau das Zimmer, in dem meine Mama und mein Papa damals gewohnt haben. Genau hier! Im Treppenhaus riecht es mit Sicherheit noch wie früher, ein warmer, bäuerlicher Geruch, der irgendwie Gemütlichkeit und das Vorhandensein von Tieren verspricht. Die Balkonecke da draußen und der Blick über die damals verschneiten Weiden auf den Wald sind mit den alten Fotos aus dem mitgebrachten Album identisch. Das überfordert mich alles ein bisschen. Örg und Sandmann fallen, angeschiggert von dem einen oder anderen Bischhoff-Premium-Pils, ermattet in das große bequeme Bett. Was für ein Tag. Was für Fotos. Was für große Emotionen im kleinen Herzen eines global gesehen völlig unwichtigen Lebens. Morgen kommt der Auto Bild Fotograf, dann wollen wir der Vergangenheit einmal visuell auf den Pelz rücken.
Sandmann und Örg
„Die fest eingestellten und weder auf- noch abrollbaren Gurte machen ein Lösen des Oberkörpers von der Sitzlehne immer wieder unmöglich! Argh.“
Tja Jens,
du hast halt nicht verstanden, wie die Gurte des K70 funktionieren:
Sie verkeilen sich bei jeglicher Schräglage des Wagens in der B-Säule. Die Annahme von NSU in den 60ern: „Schräglage = Bremssituation.“
Alles Gute,
Karsten Wiechmann
aus Kiel…
Ay Karsten,
wie? Was?? 😀
Gruß zurück, gerade mal nicht aus Kiel sondern von Sardinien!
Sandmann
KARSTEN!!!
Ach Karsten? Karsten Wiechmann?? Der?
Hey wie geht es dir? Mann hab ich eine lange Leitung…..
Ja genau Jens.
Und ich war jetzt über zwei Jahre nicht auf deiner Seite 🙁
Hier ist alles klar. Hoffe,, bei dir auch
Grüße
Karsten
Ay Karsten,
na ja, klar ist nicht alles, aber was ist im Jahr 2020 schon klar….? Wir sollten mal wieder einen Kieler Kaffee schlürfen. Du weißt ja, wo du mich (zumindest virtuell) findest…
Sandmann