Am Ende der Kindheit
Ay Gemeinde,
auch der tiefste Tauchgang in die bunteste Vergangenheit hat (wie alles) irgendwann ein Ende, der Alltag holt uns ein. Die Koteletten sind ab (also zumindest meine…), die Polyesterhemden riechen nicht mehr so gut und das Nummernschild gilt sowieso nur noch bis heute Abend. Äh… das vordere gilt noch immer eigentlich gar nicht, Örg schraubt noch schnell das Kurzzeitkennzeichen wieder dran. Ein kalter nieseliger Nebel liegt über dem Stüterhof. Eva Schoner nimmt eine Ladung Getränke vom Lieferanten an. Vor uns liegen erneut 700 bremsenlose Autobahnkilometer auf einem laaangen Heimweg vom Pfälzer Wald zurück nach Kiel. Von 1979 zurück nach 2008. Vom Kind zurück zum Papa.
Nachdem wir bei Eva Schoner die Rechnung beglichen haben (und uns ein bisschen wunderten, wie viel Bier man an nur zwei Abenden vor Ort hier trinken kann), fotografieren wir noch ein paar graue Außenansichten. Auf diesem Feldweg bin ich mal gerodelt, damals, 1973, als es noch Schnee gab. Ist Ihnen das mal aufgefallen? Auf alten Fotos war im Winter immer Winter, oder? Na ja, momentan müssen wir uns ja nicht beschweren…
Da gibt es noch ein Gästebuch, seit Urzeiten, leider sind wir die ersten meiner Sippe, die auf die Idee kommen, sich da einmal einzutragen. Opa Neustadt hat zwar gegenteiliges behauptet, aber wir können keinen Eintrag finden. Also müssen Örg und Sandmann ein Zeichen setzen.
Über die sehr bemühten Gedichte verblichener Wandergruppen schmunzeln wir noch Stunden später. Austauschbar. „Das Wetter war schön, leider müssen wir jetzt… (na?)„. Örg zeichnet einen KaSi in das heilige Buch, damit wir zumindest etwas wiederfinden, wenn wir in 20 Jahren die Retro Tour zur Retro Tour machen. Vermutlich wird sich bis dahin hier nicht sonderlich viel verändert haben. Final werden von uns noch ein paar Dosen köstliche hausgemachte Leberwurst und hausgemachten Schwartenmagen erworben und ab vom Hof. Die Luftfeuchtigkeit macht den K70 schon wieder etwas bockig. Aber hey – wenn Engel reisen, reißt natürlich irgendwann auch der Himmel auf. Schööön!
Was finden wir denn noch so im Handschuhfach? Im sehr geräumigen Handschuhfach? Infos über die Madenburg und die Totenkopfhütte und – Cola Schleckies! Kennen Sie die noch? Ein Traum am Stiel, und es ist noch immer der gleiche unauthentische Colageschmack wie vor 35 Jahren! Hach. Der Verkehr läuft leidlich flüssig, alle nennenswerten Bremsvorgänge lassen sich wie gewohnt mit der Handbremse bedienen. An die fröhlich uns überholenden und dabei lachenden und gestikulierenden Menschen haben wir uns inzwischen gewöhnt. Noch einen Lolli? Gern. Was haben wir denn außerdem noch so im Repertoire?
Brausepulver! Ahoiiiii Brause prickelt sooo, Ahoiiiii Brause von Frigeeeeeo. Ups? Ich habe mich gehen lassen. Und das ohne Sponsorenvertrag. Waldmeister, bitte.
Puuuuuaaaaah. Bin ich alt geworden? Hu. Hat das eigentlich irgend wann mal irgend jemand in irgend ein Glas Wasser geschüttet, so, wie es eigentlich gedacht ist? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich muss jetzt ganz viele fruchtige Bäuerchen rauslassen. Wah. Urks. Als nächstes dann Orange, bitte.
Stau! Da bist du ja endlich mal wieder. Was haben wir an einem Freitag auch anderes erwartet? Die Kasseler Berge sind eine einzige Baustelle, im schleichenden Stop- and Go quälen wir uns durch die endlosen, mit banalen Windkanal-Design-Schleudern vollgestopften Kilometer. Vorherrschende Farben sind grau, weiß, silber und schwarz. Schaltgetriebe sind im Stau am Hang doof. Ich liebe meinen Audi V8 und seine ZF-Automatik! Zu allem Überfluss hat der Vergaser des alten NSU beschlossen, die Leerlaufdrehzahl durchaus entertainend bei 3000 Umdrehungen/Minute brüllend einzupendeln. Erst als ich mich abschnalle und ihm mit dem gezückten Schraubenzieher drohe, besinnt er sich auf seine deutschen Tugenden und blubbert zufrieden niedertourig vor sich hin.
Kennen Sie „Die Hand an der Wiege„? Ich nicht. Meine ist an der Bremse. Der Stau nimmt kein Ende, mein rechter Oberarm schwillt zu einem beachtlichen Opel-GT-Lampenhebel-Muskel an und Örg schmettert unbeirrt deutsche Schlager der 70er. Ich werde die kommenden vier Wochen im Schlaf von Ohrwürmern gepeinigt werden. Aber der KaSi ist müde. Man merkt es ihm deutlich an. Über 2000 Kilometer und viel zu viele Schaltvorgänge sind insgesamt zu viel für den maladen alten Herren. Er fährt tapfer, aber hier und da zeigen sich erste Ausfälle. Das Ausrücklager der Kupplung scharrt im Leerlauf, und die Kupplung selbst riecht verbrannt vom ewigen Stop und Go. Die Bremsen rubbeln in ihrer eigenen Hitze und irgendwie flattern die Vorderräder…
Da bin ich ja zur Abwechslung mal tiefenpsychologisch komisch. Wenn nicht alles am Auto so läuft wie es sein soll bekomme ich schlechte Laune. Da können ein paar Leute ein Lied von singen. Wenn auch keinen Ohrwurm. Als der Stau sich ENDLICH auflöst (was war? Unfall auf der Gegenfahrbahn, bei uns nur Gaffer. Wahnsinn), ziehen wir unter dem Vorwand einer Pinkelpause auf die nächste Raste. Nein, die Räder wackeln wider Erwarten nicht. Der Motor tickt und knackt zufrieden, nichts kleckert, nichts dampft. Die Bremsen sind frei und ohne nennenswerte Wärmeentwicklung. Das beruhigt, denn auf dem Hinweg konnte man sich an den Stahlfelgen die Finger verbrennen…
Dieses Auto lebt! Ich weiß nicht, ob sich während der kurzen Pause irgend etwas berappelt hat, jedenfalls dreht der Motor wieder schnurrend und zufrieden, die Räder rollen rund wie immer und die Kupplung macht keinen Lärm mehr. Mit klassischer Reisegeschwindigkeit geht es die letzten Kilometer durch Norddeutschland. Hier kennt man schon wieder jeden Busch. Auch wenn ich mich auf mein eigenes Bettchen freue, macht sich in mir wieder Melancholie breit. Menschenskinders, kann man mit dem Kerl lachen! Haben Sie schon einmal eine Freundschaft durch eine derartige Feuertaufe laufen lassen? Fünf Tage auf engstem Raum, Rahmenprogramm, permaverkleidet und im elterlichen Ehebett schlafend? Das schweißt zusammen…
Kaum ist ein Handynetz da, klingelt ständig das Telefon. Ja, schimpfen Sie mit mir, ich habe in diesem Auto keine Freisprecheinrichtung. Wozu auch? Kopfstützen habe ich ja auch nicht. Und ABS. Und ASR. Und so. Zugegebenermaßen ist es nicht leicht, ein Gespräch zu führen, wenn man aus dem Augenwinkel mitbekommt, wie Örg unermüdlich seine Gesichtshaut in Falten legt, über die Zähne walgt und sich selbst fotografiert. *blitz* Ein Gummimann. Bald ist Halloween. Warum macht der eigentlich keine Filme? Ich versteh‘ das nicht.
Epilog zur Reise in die 7oer
Liebes Tagebuch. Wenn ich dich damals im fraglichen Zeitraum nicht geschwärzt, zerrissen und verbrannt hätte, könntest du mir vielleicht ein paar Dinge erzählen, die ich tief in meiner Seele vergraben habe. Wir haben gerade eine Menge erlebt. Aber – Wer war ich vor 30 Jahren? Auf jeden Fall nicht blöd. Wenn Mama abends immer weint und Papa Weihnachten plötzlich Geschirr in Kartons packt und dann weg ist, macht das irgendwas mit einem 10-Jährigen. Wer bin ich heute? Ich habe gehofft, ein paar Antworten in eben dieser Vergangenheit zu finden. Wenn man Örg hat, braucht man keinen Therapeuten. Er bringt einen auf den Kern und macht mit einfachen Worten klar, worum es geht: Um das hier und jetzt. Um eine kleine, heile Welt voller Ehrlichkeit und echter lachender Kinderaugen. Wir sind wieder zu Hause angekommen.
Wollen Sie sich von Ihrem grauen Alltag erholen? Auch wenn mir Eva in der Schlussrechnung nicht einen Cent entgegen gekommen ist, breche ich erneut eine Lanze für den Landgasthof Schoner. Nehmen Sie Zimmer Nummer 3. Das ist gut und hat den größten Balkon, eine Minibar und ein schönes großes Bettchen. Schon meine Eltern wussten es zu schätzen. Oh – aber nein. Keine Melancholie. Wenn ich immer wieder so viel lachen kann, wenn eine Freundschaft durch so absurde Thematiken sogar noch gefestigt wird, wenn die Vergangenheit in der Lage ist, mir einen bunten Herbstwald und fünf (zumindest tagsüber) fröhliche Tage zu bescheren und wenn ich durch eine solche Reise den Wert, den geradezu unschätzbaren Wert vom Zusammenhalt einer starken (wenn auch getrennten) Familie neu erkenne und meine beiden wundervollen Töchter mich mit vertrauensvollen Augen anlachen… dann werde ich immer wieder so etwas machen.
Sandmann
Nochmal zurück? HIER 🙂
Hey Sandmann,
ich bin total gerührt und fasziniert von den Geschichten und Bildern. Du Poet. Ich muß das alles heute Abend gleich noch mal lesen…
Abel
Ay Calimero,
ach *seufz* das ist schön zu lesen 🙂
Freut mich, wenn etwas von dem Spirit der Reise auch auf Leser übergreift, die mich nicht persönlich kennen. Da kommen noch viel mehr Geschichten, ich habe ja noch ein zweites altes Auto – und mein V8 macht ja auch regelmäßig Zicken…
Aber jetzt bringen wir erst einmal Weihnachten hinter uns, okay?
Sandmann
Wie ergreifend das zu lesen und es irgendwie nachvollziehen zu können, was sich bei Dir da alles abgespielt hat…
Es bringt mich auf Ideen und erinnert mich an einen weissen VW 1600 Variant…
Ay Hol Rin,
Ideen sind immer gut, und wenn sie etwas mit einem 1600 Variant zu tun haben scheinen sie sogar SEHR gut zu sein 🙂 Allerdings wirst du den nicht so günstig bekommen wie ich seinerzeit den K70, den ich noch immer mein Eigen nenne und der auch noch immer fährt.
Im Nachhinein bemerke ich, dass diese fünf Tage fast komplett an mir vorbei gezogen sind. Ich war so beschäftigt mit dem Suchen der Orte, dass ich gar nicht so richtig aufgearbeitet habe, weshalb ich eigentlich da war 🙁 Ich muss da wohl nochmal hin. Aber vorher fahre ich mit meinem „Dottore“ in den Schwarzwald. Da steht noch eine ähnliche Location, die es gilt noch einmal zu besuchen.
Mir hilft sowas…
Sandmann
Eine wundervolle Reisegeschichte, die mich berührt hat und den Wunsch weckt, es Euch einmal gleich zu tun! Danke für die Tollen Artikel und Fotos!
Ay Marcus,
wie schön, dass immer wieder „neue“ Leute über das Herbstlaub stolpern. Ich muss bald mal wieder so etwas machen, es hallt immer noch ein bisschen in mir nach…
Sandmann