Zwischen Regenschleiern und Handbremse
Servus zusammen,
es muss an den reichhaltigen Portionen im Pfälzer Wald liegen, das schlechte Wetter heute. Man kann hier sein Tellerchen einfach nicht leer essen, demnach scheint Petrus verärgert und lässt es frühmorgens an unser Fenster pladdern. Heute stehen Örg und ich ein wenig früher auf, die Hausherrin bat uns ganz unchristlich schon um 8.00 Uhr zum Frühstück, da heute Ruhetag sei. Ah? Ruhetag, das wär mal was für meinen Kopf momentan… Nun, so haben wir mehr vom angebrochenen Tag, also frischwärts die Stoßstangen und die Radkappen überpoliert und ein letztes mal für diese Reise tief in die verschüttete Kindheit getaucht! Bitte den Schnorchel nicht vergessen.
Bockig ist er heute, der Kasi. Da sind wir gleich. Zumindest wenn es nass ist.
Regenwetter macht dem alten Solex Doppelvergaser zu schaffen, zumal die porösen Fußdichtungen reichlich Nebenluft ziehen. Nach einigem Georgel und Gepumpe springt der Triebsatz mürrisch an, um dann mit 5000 Umdrehungen verärgert im Standgas zu schreien. Okay. Das kennen wir ja schon. Wo ist der Schraubendreher…?
Mölschbach. Nabel der Welt, Achse der Republik und Zentrum des Pfälzer Waldes. Glaube ich. Am Ende des Tages ist es ein unbedeutendes Dörfchen in der Mitte von Nirgendwo, ein Durchreise-Nest, eine Endstation für Kleingärtner mit Hang zur Reihenhaushälfte. Ich werde nie genau erfahren, warum ich 1979 hier auf einem Spielplatz war, aber es wird Gründe gegeben haben. Jemand erzählte mir von einer Telefonzelle, aus der Menschen angerufen wurden, die man an diesem Tag besser nicht angerufen hätte. Aber das ist eine andere Geschichte. Obwohl…
Perspektivisch stimmt es heute nicht ganz, da die (ebenfalls nach europäischen Sicherheitsrichtlinien) erneuerte Seilbahn einen Schritt nach rechts gemacht hat, die Hecke stark angewachsen ist und der Haken am Seil einen nicht mehr so griffig baumeln lässt. Aber – wie ein nasser Sack kann ich auch heute noch hervorragend hängen. RRRRRRRRRRRHHHHHHHSSSSSS!!!!!! Herrlich…
Signomanie in Mölschbach. Einen versteckten Cent auf Trifels und eine kleine Inschrift in der geräumigen Kinderspielhütte, hier, vor dem idyllischen Kindergarten. Kalter Regen scheppert auf das Dach und auf unsere Wachsjacken. Was nun? Teufelstisch? Nein, lieber später, auf dem Weg zur Totenkopfhütte. Wir beschließen, mit dem alten K70 zunächst in das nahe Kaiserslautern zu cruisen, um ein paar Biervorräte aufzufrischen und endlich funktionierende Batterien für unseren auf dem Rücksitz liegenden holzfurnierbeplankten Kasettenrecorder zu erwerben. Wer kann schon lange ohne Musik leben, und wenn es nur die Schlager von Wim Thölkes „Großem Preis“ sind!
Was für ein Reinfall. In grauen Fußgängerzonen bekommen wir zwar Batterien, die gehen aber auch nicht. Nach nun 16 nicht funktionierenden Exemplaren drängt sich der Verdacht auf, das Problem könnte am Recorder selbst liegen. Also gleiten wir nach wie vor selbstsingend unseres Weges. In einem romantisch muffigen Callshop kaufe ich eine halbe Stunde Verbindung in den Rest der Welt und wundere mich gar nicht, dass der Browser so eingestellt wurde, dass er alle meine Passwörter speichern will. Schöne gläserne Welt. Örg bereitet sich unterdessen aktiv auf Halloween vor. Mit einem Schluck Bremsflüssigkeit verätzt er sich die linke Hand und erschreckt als „Herr Warneke“ in der Spielzeugabteilung von Karstadt kleine Kinder.
Erinnern Sie sich an den Kuchen Ihrer Kindheit? Makronen? Nusstaler? Wenn wir damals spazieren gegangen sind, vornehmlich natürlich am Sonntag Nachmittag, habe ich immer einen „Amerikaner“ bekommen. Diese pappigen klebrigen Backwaren gibt es noch immer, und ich komme nicht umhin, einen käuflich zu erwerben. Alternativ hätte es auch eine Kokosmakrone sein können. Während Jörg an seinem trockenen Donut knabbert, verklebt mir erst der Mund, dann der Hals und dann der Magen. *würg* Vielleicht war damals doch nicht ausnahmslos alles so toll… Irgendwas war da doch auch noch mit einem Kaugummiautomaten, der dragierte Erdnüsse preisgab… hm… Puh. Folgen Sie uns lächelnd zum Teufelstisch.
Der Lump ist gar nicht so einfach zu finden, ohne Navi und mit grober Karte von 1971. Irgendwo auf dem Weg von Kaiserslautern nach Pirmasens findet man ein ganz kleines Schildchen, welches einen zu ihm lotst. Natürlich ist der angrenzende Spielplatz von damals nicht mehr da, statt seiner errichtet man hier gerade einen hochmodernen Erlebnispark. Schade. Also heute und hier keine Vergleichsbilder, wohl aber Impressionen eines doch recht beeindruckenden Naturschauspiels. Durch Auswaschungen und natürliche Erosion ist hier eine Art Tisch entstanden, der viele Menschen zum Einritzen ihrer Namen animiert hat. Erste Signaturen sind von 1948… Es wächst noch immer ein Baum auf ihm. Ist es der gleiche wie damals?
Wir ritzen nicht. Wenn das jeder machen würde, hätten die Bewohner im Tal unten irgendwann demnächst einen nennenswerten Felsen im Dach stecken. Der liegt ohnehin seit Ewigkeiten nur auf einer schmalen dünnen Bröselsäule, es drängt sich einem permanent der Verdacht auf, dass ein kleiner Windstoß das Gleichgewicht kippen könnte.
Dennoch – schön ist es hier oben. Der Regen plätschert wie das Meer, und auf einer kleinen Bank unter dem gruseligen fragilen Vorsprung ist Zeit für trockenes zeitgenössisches Rauchen vor geritzten Namen und Daten. Hier war ich also schon mal? Ich kenne den Platz nur noch von den Fotos, aber ich fröstel trotzdem ein bisschen. Bevor unsere Beinkleider gänzlich durchnässt sind, brechen wir die Weiterreise an. Eine irgendwie recht morbide Tour, Madenburg, Teufelstisch, und jetzt geht es final hoch zur einem Ort, der ebenso das knochige Nomen der eher verblichenen Art als Titel trägt… Entweder haben die hier alle lange Weile gehabt oder in dunklen Zeiten okkulte Parties gefeiert.
Die Totenkopfstraße (die den Berg „Totenkopf“ hinauf führt) wird immer schmaler, immer steiler, immer serpentinenreicher und immer dunkler. Das schlechte Wetter hat die fallenden Blätter zu einer matschigen geschlossenen Laubdecke verweht, und der starke Regen vermischt sich mit tief im Wald hängenden Wolken. So eine Piste wollte ich schon immer einmal mit einem fast 40 Jahre alten Auto ohne Bremsen fahren. In der linken Hand ein Gespräch mit Papa Kalle, der das hier alles verzapft hat, das linke Knie am Lenkrad, der linke Fuß lässt dabei die Kupplung schleifen, mit dem rechten Fuß Zwischengas geben und mit der rechten Hand gleichzeitig runterschalten und die Handbremse ziehen… das geht gut bis zur nächsten scharfen Kurve!!! Ich werfe Örg aufschreiend das munter plappernde Handy zu, kurbel beherzt beidhändig an den KaSi Bedienelementen und verhindere gerade noch eine Benutzung der Fußbremse (und nebenbei auch den Absturz aus 600 Metern Höhe). Was MACHEN wir hier? Wir wollen eigentlich in der sagenumwobenen Totenkopfhütte einkehren, einer rustikalen Taverne oben auf dem Berg, tief im Wald. Ein Geheimtipp von Christian Steiger. Wenn schon Pfälzer Wald, dann auch da hin, weil dort die 70er stehen geblieben sind, sagt er. An dieser Stelle ein herzliches Hallo! an Herrn Steiger und ein Beweisfoto, dass wir unter größten Strapazen da waren. Geöffnet von März bis Oktober immer Samstags und Sonntags. Oh mann. Heute ist Donnerstag. Also singend wieder den Berg runter nach Sankt Martin, weil der Weg so wunderschön war. Wenigstens ist es jetzt auch noch dunkel, da wirkt das Herbstwetter authentischer…
Helmut Kohl. Was weiß man noch so von ihm? Das hängt vermutlich ein wenig mit dem Lebensalter des geneigten Blog-Lesers zusammen. Er war der Kanzler der Einheit, er war echt dick, und sehr gut in Erinnerung geblieben ist mir sein Lieblingsgericht: Pfälzer Saumagen. Was, seien wir mal ehrlich, ad hog nicht wirklich köstlich klingt und im Kopf Bilder von Innereien, Glibber und irgendwas stinkendem auslöst. Nein, Freunde, alles halb so schlimm. Es handelt sich hier um eine Art Festland-Labskaus, gehacktes Schweinefleisch, Kartoffeln und Gewürze. Traditionell eigentlich dampfend in einem Magen serviert, also nichts anderes als eine Bratwurst. Sandmann und Örg wählen die entschärfte Variante ohne den Magen, dafür aber mit Sauerkraut. Köstlich. Man muss es mal gegessen haben!
Hui. Dunkel ist es. Eigentlich wollen wir jeder als Abschluss des Abends nur noch eine Flasche Wein als Mitbringsel für liebe Menschen im Norden direkt beim Winzer erwerben und geraten aus Versehen in eine feiernde Gruppe von junggebliebenen Mitt-Sechzigern aus – na? – HAMBURG. „Nee, wat habt ihr denn für Koteletten dran, erzählt mal!“ Wir wollen unsere Geschichte gegen ein Glas Wein eintauschen, der verzweifelte Wirt bedeutet uns im Hintergrund jedoch, dass er seit einer Stunde geschlossen habe und seit dem versuche, die lauter werdende Gruppe rauszufegen… Die vielen leeren Weinflaschen auf dem Tisch erklären einiges.
Oh nein! Wie kommen wir hier wieder raus??? Erste liebestolle Omis rupfen an Örgs Backenbart und flüstern ihm zu, wie schnuggelig er aussehe. Angewidert und hilfesuchend blickt er zu mir rüber, ich hingegen werde gerade aufdringlich gefragt, ob ich nicht Schauspieler sei, man würde mich definitiv aus dem Fernsehen kennen. Äh? Na gut, ich bin Til Schweiger und wir drehen hier eine Telenovela. Und was macht die Dame? Reißt mir die linke Kotelette ab! Ja ist denn das zu fassen? „Ich geebssie dier erss wieder wennu mir ssagsst wer du bisst!“ Das ist zu viel für einen einzelnen Blogger. Mit bösem Blick und „Rumpelstilzchen“ murmelnd fordere ich von der distanzlosen Dame erfolgreich meinen Echthaar-Bremsstreifen zurück und verlasse mit Örg und einer schmerzenden linken Schläfe dieses Etablissement. Ausreden brauchen wir nicht. Der Wirt wirft uns dankbare Blicke zu. Betrunkene ältere Frauen machen mir ab heute Angst.
Sankt Martin. Schön bist du, wenn es nicht mehr regnet und deine Gaslaternen an sind. Örg laboriert noch immer an der Erkenntnis, dass seine Fangemeinde offensichtlich älter wird und raucht verzweifelt und zeitgenössisch eine Zigarre.
Stimmungsvolle Lichtkulissen lassen uns mit der Restenergie des sterbenden Kameraakkus die schönen ausklingenden Momente einfangen. Ja, Herr Steiger, Sankt Martin und Maikammer waren sehr gute Tipps. Danke an dieser Stelle. Hier ist die Zeit wirklich stehen geblieben. So sah es bestimmt vor 50 Jahren schon aus, und so wird es immer aussehen. Allein die Menschen in den Gassen werden älter. Aber die wachsen ja nach.
Am Ende dieser ganzen Fahrerei bei Regen durch die Berge tut es nun gut, sich wieder auf den Heimweg zum lauschigen Stüterhof zu machen. Dazu müssen wir ein letztes mal über den Totenkopf, mein rechter (Brems)Arm fragt inzwischen schon gar nicht mehr. Auch der KaSi wirkt ein bisschen müde. Er wird nicht zeitgemäß bewegt, immer dieses Motorgebremse und die fast ständig gezogene Handbremse quälen ihn. Doch er hält tapfer durch, wird nicht zu heiß und nicht zu kalt, schnurrt von A nach B und umschmeichelt uns Insassen mit intensiver und für VW damals ungewohnter Kühlwasserwärme. Du treue Seele. Am Liebsten würde ich dich mit aufs Zimmer nehmen, draußen ist es so nass und kalt…
Morgen geht es nach Hause. Schon wieder alles vorbei? Wir haben doch erst 600 Fotos gemacht? Wir lassen sie im Bettchen noch einmal alle über den Rechner flimmern und wälzen uns erneut vor Lachen. Irgendwann schlafen wir glücklich und zufrieden, aber mit Schluckauf ein. Voller Ehrfurcht vor dem Moment. Im Bettchen meiner Eltern. Irgendwo in der Vergangenheit, da, wo die Handynetze noch nicht hingefunden haben.
Sandmann