Ein mächtiger 5,6 Liter V8 in einem Mercedes-Benz – in Europa war der für dieses Fahrzeug nicht zu bekommen. Der Wagen verrät seine amerikanische Herkunft durch die dicken Bumper, und er hat weniger Laufleistung als so mancher Jahreswagen. Zwei Freunde überführen den exotischen Mercedes 560 SL der Baureihe R 107 vom Händler in die Werkstatt, wo er aufgearbeitet und zum Kunden ausgeliefert wird. Ein Ersthand-Roadster mit Hardtop, der im Stuttgarter Hafen ohne Sprit liegenbleibt!
Verständnis für Umwege
„Die Tanknadel bewegt sich kein Stück, sollen wir wirklich…?“ Ja sicher. So eine Gelegenheit bekommt man nicht oft. Einen SL der Baureihe R 107 fahren, einen mit dem größten damals erhältlichen V8 aus der S-Klasse. So groß, dass er allen Ölkrisen zum Trotz im offenen Roadster nur in die USA exportiert wurde. Deshalb hat dieser 560er auch rundrum diese dicken, nichtrostenden Bumper und ein paar Striche mehr auf dem Tacho, jenseits des Atlantiks war das so. Und genug Benzin wird schon drin sein. Jedenfalls bis zur Tankstelle unten am Neckar.
Das hat zumindest der ein bisschen mürrisch guckende Mann gesagt, der den beiden den Zündschlüssel gegeben hat. Eigentlich sollte der Benz direkt von hier in die technische Aufbereitung und dann zu einem Kunden, der ihn schon bezahlt hat. Dass die Jungs noch einen kleinen Umweg fahren würden konnte er sich lebhaft vorstellen und zog brummelnd wieder ab. Er gönnt ihnen keine Extratouren. Und dafür reicht auch das Benzin nicht. Aber Menschen wollen Autos fahren. Nicht neue, rundgelutschte Leasingrückläufer, sondern kantige Ikonen mit Stern. Das muss man doch verstehen.
Warnlampen, gelb und orange
„Was heißt denn AntiLOCK? Das leuchtet plötzlich…“. Während ein leichter Landregen die Welt in ein schlichtes Grau taucht, fällt die gelbe Warnlampe besonders auf. Gelb, nicht rot, das kann also nicht so schlimm sein. Subjektiv betrachtet funktioniert alles einwandfrei, und die technische Aufarbeitung steht dem schnittigen Roadster sowieso noch bevor. Das satte Stück Technik macht sich jenseits der geplanten Route, vor der eisernen Container-Kulisse unten am Neckar, extrem gut. Hier weht ein schlickiger Wind über das Wasser, hier dröhnt und kracht die Schwerindustrie.
Der seidenweiche Stern in Pajettrot Metallic ist ein kontrastreicher Ort für Gespräche. Was ist alles in 55 Jahren AMG passiert? Kann man einen defekten Wärmetauscher im Innenraum wirklich riechen? Gibt es irgend einen Mann auf dieser Welt, der nicht in Nina Sergeevna Krilova aus der Serie „The Americans“ verliebt ist? Das Auto fährt den Neckar entlang, weiter als es geplant war. Es lockert die Zunge und die Gedanken. Im Rückspiegel sieht man Hafenarbeiter mit gelben Warnwesten arbeiten. Und nun leuchtet neben der AntiLOCK Lampe auch noch die Tanklampe. Orange.
Langzeit-Bestseller
Als die neue SL Baureihe R 107 im Jahr 1971 die „Pagode“ ablöste, ahnte noch niemand, dass der neue Roadster das am längsten gebaute Modell in der Mercedes-Benz Firmengeschichte werden wird. Und es vermutlich auch aus heutiger Sicht für immer bleibt. Friedrich Geiger, gefeierter Schöpfer des 300 SL, verpasste dem neuen Vorzeigemodell damals topmoderne H4 Breitband Scheinwerfer und erstmals die geriffelten Rückleuchten, die eine ganze Generation von Autos kennzeichnen sollten. Technisch entsprach der neue SL weitestgehend dem Technologieträger S-Klasse. Für den Hauptabsatzmarkt USA wurden die großen V8 Triebwerke überarbeitet und neue Viergang Automaten mit Drehmomentwandler verbaut.
The Americans
Das Auto, mit dem die beiden Freunde unterwegs sind ist in Deutschland ein echter Exot – der 560 SL wurde nur für den amerikanischen Markt produziert und war in Europa offiziell nicht erhältlich. Der Sportler mit Seitenaufprallschutz und Knieschutz für die Passagiere wanderte in nennenswerten Stückzahlen über den großen Teich, über die Optik streitet sich die polarisierte Fangemeinde damals wie heute. Während die einen die dicken US Bumper und die ein wenig irre guckenden Sealed Beam Doppelscheinwerfer cool finden, wollen die anderen lieber die filigraneren europäischen Stoßstangen und Lichter. „Umrüstsätze“, mit denen sich die Re-Importe wieder zurückrüsten lassen, sind daher absolute Mangelware und werden gern mit 3000 Euro im Netz gehandelt.
Ein variabler Baukasten
Das Baukastensystem des R 107 lässt theoretisch jede Motorisierung zu, die auch in einer beliebigen anderen Mercedes Limousine arbeitet. Vom Fünfzylinder Diesel OM617 bis zum gewaltigen M100 aus dem 450 SEL 6.9 passt alles mit ein paar Umbauarbeiten unter die große Haube. Während der SL nur einen optionalen Notsitz anbietet, konnte der familienaffine Kunde damals auf den SLC zurückgreifen, der mit seinem verlängerten Radstand ein vollwertiges, fünfsitziges Coupé ist. 1989 kam dann, nach 18 sagenhaften Jahren, der Nachfolger R 129. In diesen 18 Jahren erfuhr das Modell, allein schon wegen der rasend schnell voranschreitenden Technik, unzählige Veränderungen. Ein 1971er SL ist ein komplett anderes Auto als ein 1988er SL. Das dunkelrote Fahrzeug hier am Ufer des Neckar ist eine späte Ausbaustufe, ab 1980 gab es schon ABS (daher kommt auch die AntiLOCK Lampe) und ab 1982 den Airbag. Die aufladbare Taschenlampe im Handschuhfach ist ab Werk dabei. Cool.
Ein durstiger Gesell
Nicht so cool ist, dass der durstige Motor einen knappen Kilometer vor der angepeilten Tankstelle ausgeht. Das Benzin ist nun definitiv alle, Männer sind Meister im Verdrängen. Aber wer sich über Nina unterhalten kann, der kann auch schieben, die Straße ist leicht abschüssig. Kurz vorm Ziel, die Preistafeln sind schon zu sehen, dann der Aufschrei: „AAAAHHHHH neiiiiin der Tacho der TACHO!!“. Im Verkaufsschild stehen 15.500 Meilen. Jetzt sind da 16.000 auf dem Meilenzähler. Das gibt Ärger vom Chef, definitiv. Der kleine Umweg ist nun doch ein bisschen zu ausufernd geworden. Aber die Gespräche waren so gut, und der Roadster so geschmeidig…
Langzeitqualitäten
Das gute Super läuft und läuft. Die letzten Kilometer zu der Werkstatt schweigen die beiden, obwohl noch lange nicht alles gesagt ist. Wie viel Auto braucht man in diesem Leben? Okay, wer ein Kind hat, das schwerer als 30 Kilo ist, bei dem sollte der SL noch ein C im Namen tragen. Aber sonst? Hier drin passt alles und quietscht nicht. Die Schalter fühlen sich auch nach 35 Jahren massiv und präzise an, die Automatik legt die Gänge seidenweich und unfühlbar ein. Wenn man erstmal den Hebel für die Höhenverstellung der Sitze gefunden hat, muss man auch als 1,90m großer Norddeutscher den Kopf nicht mehr unter dem Hardtop einknicken. Welch wunderbare Technik, welch ikonische Form. Der alte SL könnte ein echter Freund sein. Ein letzter, ungläubiger Blick auf den noch immer makellosen Zigarettenanzünder – wer dieses Auto gekauft hat, bekommt gefühlt einen Neuwagen.
Irgendwann den Traum wagen
Der Schlüsselmeister in der Werkstatt ist nicht mehr ganz so mürrisch wie sein Kollege im Autohaus, denn gleich darf er Feierabend machen. Mit kritischem Blick guckt er auf die leichten Spritzer an den Flanken. Ja doch, es hat geregnet. Der Schmutz lenkt ihn vom zu hohen Meilenstand ab, außerdem ist mehr Benzin drin als bei der Abfahrt. Gut. Die Jungs sitzen noch bei einem Bier auf einer Mauer am Neckar zusammen und führen die Gespräche aus dem SL fort. Sie bekennen ihre Liebe zum klassischen W 124 und orakeln, ob ihr Geld jemals für einen guten SL reichen wird. Was die Versicherung für so ein Fahrzeug kosten würde könnt ihr jetzt schon klären – mit einem einzigen Klick auf die Seite von Hiscox. Und sein wir einmal ehrlich – Menschen müssen Träume haben, die sie im Leben weitermachen lassen. Wenn Menschen alles, wirklich alles erreicht haben werden sie wunderlich. Also, Freunde. Lasst uns alle zusammen weiterarbeiten und uns irgendwann mal einen echten Traum wagen.
Sandmann
Mercedes-Benz 560 SL
Baujahr: 1986
Motor: V8
Hubraum: 5547 ccm
Leistung: 231 PS bei 4750 1/s
Max. Drehmoment: 378 Nm bei 3250 1/s
Getriebe: Viergang Automatik
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 4580/1790/1300 mm
Leergewicht: 1619 Kilo
Beschleunigung 0-100 km/h: 7,7 s
Top-Speed: 223 km/h
Wert: ca 50.000 Euro
Ich würde die US-besonderheiten so lassen, gehört zu dem Auto dazu und außerdem ist es für mich so ein typischer Mercedes der häufig in die USA ging 🙂
Mir gefällt der 126 und 129 aber besser.
Bei den alten AUtos sieht man teilweise sehr große Unterschiede zwischen EU und US Modellen aber bei den Neuen lediglich der kleine orangene „Blinkerstreifen“ an den Scheinwerfern.
Ay pico24,
ich glaube ich habe den R 107 auch zum ersten Mal in amerikanischen Serien wahrgenommen 😉 Ich persönlich mag ihn in der europäischen Version lieber, da hat er eine elegante Schlichtheit. Aber nicht so reduziert wie beim R 129. Der ist elegant, quasi von der Haptik ein sportlicher W 124 ohne Dach 😀 Aber mir sind 129 und 124 zu sesselig.
Meine kleine Romanze mit zwei 126er nacheinander ist an der Zeit gescheitert. Vielleicht ist die Zeit aber auch mein Lackmustest für wahre Autoliebe. Für den Taunus und den XM finde ich immer wieder Zeit…
Auf zu neuen Abendteuern!
Sandmann