Fast wäre ich gegen die Schranke gefahren. Das war doch mal ein Rastplatz? Ich bin unterwegs in meinem fast 20 Jahre alten Audi V8 auf der A7 von Kiel nach Hamburg, einem dringenden körperlichen Bedürfnis nachgeben müssend. Doch der Rastplatz ist weg. Oder zumindest gesperrt? Meine Blase drückt trotzdem, also umfahre ich die rot weiß gestreifte Absperrung (verbotenerweise) über den Grünstreifen und stehe auf dem, was von dem Parkplatz noch übrig geblieben ist. Gräser und Wildkräuter arbeiten sich mutig und respektlos durch rissigen Asphalt, Bänke und Tische existieren nicht mehr, das Astwerk der Bäume ragt weit in die Fahrbahnen herein. Eigentlich stehe ich nur auf einem wegrationalisierten, stillgelegten Fragment aus früheren Zeiten.
Aber – ist das nicht sehr viel mehr als nur ein abgesperrter Rastplatz? Zum Beispiel ein Ort von zigtausendfacher Ferienplanung? Als Fernfahrten mit dem eigenen Auto noch richtige Reisen waren und keine assistenzgestützten Digitaltouren? Ich blicke zurück, sagen wir… 30 Jahre.
„Wann sind wir endlich daaaaa?“ Eltern kennen diesen Satz, er kommt vornehmlich vom Rücksitz und meistens schon nach einer halben Stunde, also am Anfang einer langen Autofahrt. „Mir ist langweilig. Ich muss mal. Ich möchte ein Eis.“ Ich sehe mich selbst im zarten Alter von fünf oder sechs Jahren unangeschnallt auf dem Rücksitz unseres VW K70 oder Audi 100 5E herumturnen, immer in Bewegung, hibbelig und voller Vorfreude auf das Urlaubsziel. Es geht in den Schwarzwald, in den Pfälzer Wald oder nach Österreich. Eine lange Fahrt für die kleine Pädagogenfamilie, starten wir doch weit oben auf der Karte im niedersächsischen Uelzen. Und überhaupt eine lange Fahrt für den kleinen Jungen und seine ältere Schwester auf dem Rücksitz, die voller Neugier die Welt entdecken.
Damit die Zeit in der analogen Quarzuhr vorn in Papas Cockpit nicht einfriert spielen die Eltern mit uns Autonummernraten oder „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Oder wir singen. Wanderlieder. Und wenn der kleine Hunger kommt, fahren wir auf einen der zahlreichen Rastplätze. Es gibt Capri Sonne, Tri Top oder selbstgerührtes Quench. Dazu hartgekochte Eier, Würstchen aus dem Glas und BALM-Rindfleisch aus der Dose. Mit frischen Brötchen…
Klick – 2011, da bin ich wieder. Ich schreite zwischen Schafgarbe und Löwenzahn das verbotene Terrain ab, nachdem ich meinem Bedürfnis nach Erleichterung nachgekommen bin. Sie haben eben diesen besonderen Charme, die Rastplätze an den Autobahnen. Sie erzählen Geschichten von Reisenden und von Heimkehrenden, sie stehen für jedwede körperliche Erleichterung und für notwendige Pausen, während laut und unablässig dröhnend die schwere Verkehrslawine ein paar Meter weiter hinter den Büschen vorbeirollt.
Seltsam. Erst jetzt fällt mir auf, wie sich das Reisen im Laufe der Jahre verändert hat. Unmengen von Entertainmentmöglichkeiten sind in die Autos eingezogen – schleichend, so dass niemand wirklich protestieren konnte. Man kauft alle fünf Jahre ein neues Auto und gewöhnt sich daran, dass hier und da ein Knopf mehr auf dem Armaturenbrett auftaucht. Analoge Zeigerinstrumente wurden digitale Displays, um dann wieder digital analoge Zeigerinstrumente abzubilden. Das Cockpit eines durchschnittlichen Kleinwagens beherbergt heute gefühlt mehr Beleuchtung als eine mittlere Kleinstadt und versorgt uns mit doppelt so vielen Informationen wie vor 30 Jahren noch das Space-Shuttle seine Astronauten.
Das Navigationssystem weiß auf den Meter genau, wo wir gerade sind und sagt uns permanent, wie wir zum nächsten Lidl oder Aldi kommen. Und wie man am besten Staus umfahren kann. Die Elektronik kennt jedes Wehwehchen der Autos und teilt entmündigend mit, wann der nächste Werkstattbesuch fällig ist. Wenn man sich nicht an die Anweisungen hält, wird man mit permanent leuchtenden oder blinkenden Lampen belästigt und manchmal sogar an der Weiterfahrt gehindert. Einige Autos stellen von alleine Telefonverbindungen zu ihrem Big Brother irgendwo in München, Stuttgart oder Ingolstadt her und berichten eifrig über die garantieverletzenden Machenschaften seines Besitzers. Und man muss nicht mal mehr das Handy ans Ohr halten. Kurz: WO BLEIBT DAS ABENTEUER????
Nachdenklich verharre ich an diesem gottverlassenen Ort, während mein alter Audi V8 tickend abkühlt. Wie sieht es heute auf einem Rücksitz aus? Die lieben Kleinen hocken artig angeschnallt und umgeben von aktiven und passiven Sicherheitssystemen (okay, das ist wirklich gut so) auf körpergerechten Kindersitzen. „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ beschränkt sich auf den Film, der über die Bildschirme im rückwärtigen Teil der vorderen Kopfstützen flimmert und nur den Fondpassagieren zugänglich ist. Also kann Papa parallel seine Telefongeschäfte erledigen und die vermeintlich tote Zeit hinter dem Steuer seines Autos möglichst effizient und sinnvoll nutzen. Und Mama? Hat iPod-Stöpsel im Ohr.
Vorbei sind die Urlaube mit und ohne Wohnwagen, die phantastischen Reisen, auf denen der Weg schon ein Teil des Zieles ist. Vorbei ist also auch die Notwendigkeit des Rastens. Hier draußen, auf diesem bald vermutlich eingeebneten Stück Urlaubsgeschichte, wird mir die ganze Tragweite dieser Entwicklung bewusst. Wir brauchen keine Rastplätze mehr, das flexible moderne Leben sieht so etwas nicht vor. Hand aufs Herz: Ein Urlaub mit den Kindern und mit dem Auto in Südfrankreich, ohne Computer und mit einem großen Zelt – ist das unökonomisch? Oder doch eher eine wunderschöne Erfahrung?
Ein Trost: Sie sind noch nicht ganz so weit im durchorganisierten Alltag versunken, sonst hätten Sie dieses Magazin nicht in den Händen oder würden diesen Artikel nicht online lesen. Sie nehmen sich die Zeit. Eventuell sogar auf einem Rastplatz? Vielleicht können wir zusammen ein paar von diesen alten Stätten des Reisens doch noch erhalten…
Mein Original Artikel ist auf TRÄUME WAGEN
Sandmann
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