Herbstanfang 2009. Während die Blätter an den resignierenden Bäumen langsam erbraunen (und ich jeden verregneten Morgen Patti Smith im Kopf habe, die unentwegt „Summer has gone, I can’t believe – it went so fast“ singt) behält mein altes Auto seine verblassende goldene Grundfarbe. Eine letzte kleine Konstante in diesen unruhigen Zeiten, alt, etwas angerostet, ohne Radio. Was vor fast 40 Jahren anmutete wie eine kantige Zukunftsvision von besseren Zeiten, ist heute ein König Midas in einem gleicher werdenden, rundgelutschten Straßenbild. Die Menschen freuen sich, wenn wir an ihnen vorbei fahren. Mein VW K70 ist wieder auf der Straße – noch nicht ganz, aber schon ein ganzes Stückchen mehr als noch anno 2008. Heute habe ich meinem Töchterchen einen Sonntagsausflug versprochen, mit unvergleichlichen Unkenrufen unser Unikat untermalend, U-Boot und Udo Jürgens…
Doch noch ist es nicht so weit. Beim 1A Autoservice Menzel in Kiel steht Menzel Senior noch kopfschüttelnd unter dem güldenen Fahrzeug. Mission: Tauschen Sie die Bremssättel und Radbremszylinder und stellen Sie bitte den Solex Doppelvergaser einigermaßen sauber ein. Randvoll mit Optimismus hat der gute Mann, der vor vielen Jahren einmal bei VW gelernt hat und den Wagen durchaus kennt, sich an die Arbeit gemacht und findet die Folgen langjähriger Vernachlässigung durch den Vorbesitzer und die Ludolfs vor. Allein die hinteren Bremsschläuche sind komplett zugewachsen. Dicht. 3 Bar Druck, und nichts kommt durch! Der Bremskraftregler auf der Hinterachse ebenso, aber den kann man überbrücken. Auch der Vergaser scheint komplett verstellt, der Choke nahezu nicht funktionabel und ich traue mich überhaupt nicht mehr, da anzurufen…
Freitag Abend ist es dann soweit! Die 5 Tage lang gültigen Kurzzeitkennzeichen werden montiert, und während ich noch bei Woolworth in der Auslage nach irgendwelchen goldenen Accessoires für Örgs 40. Geburtstag wühle klingelt mein Telefon. Menzel Junior, Chef der Werkstatt, fragt: „Na Sandmann, Lust auf Autofahren?“ Hierauf gibt es keine zwei Antworten. Schließlich soll der alte K70 nicht erst Mitte diesen Monats die Tour nach Dänemark meistern, sondern ist fest für einen herbsteinleitenden Trip nach Hamburg morgen Vormittag eingeplant. Er schnurrt wie ein Uhrwerk. Er schaltet sich präzise und er bremst, wie die Ingenieure vor 40 Jahren es geplant hatten. Und er hört damit sogar wieder auf. DAS unterscheidet sein Bremsverhalten erheblich von unserer Tour in den Pfälzer Wald…
Ich komme nicht umhin, mich regelmäßig über modernes Design und neuzeitliche Automobilkultur zu wundern. Am Hamburger Jenisch-Park steht der KaSi neben einem Smart und wirkt wie ein Saurier aus einer anderen Zeit. Er ist weder sehr groß noch sehr speziell ausgestattet. Vielleicht sind es einfach das komplette Fehlen jeglicher Aggressivität in seinem Äußeren, seine klaren kantigen Formen, seine großen Fensterflächen und sein übersichtliches Handling? Was für geniale Menschen waren damals bei NSU am Werk, die in den ausklingenden 60er Jahren ein Fahrzeug entworfen haben, was heute noch den Grundbedürfnissen eines Autofahrers genügt und einfach glücklich macht? Eine Ente schafft dies nicht. Ein Käfer auch nicht. Da fehlen ein paar Komponenten, die mit Komfort zu tun haben. Der VW K70, das ungeliebte wassergekühlte Erbe von NSU, schafft das. Ich kann den Smart nur auslachen…
Szenenwechsel. Es ist besagter Sonntag. KaSi und ich haben uns in neuem Gewand aneinander gewöhnt. Ich fahre den alten Herren zügig und gut am Gas hängend durch das Land. Der Tank ist voll (Super statt Normal, kostet ja inzwischen gleich viel), die Heizung funktioniert wahnsinnig gut in diesen stürmischen Herbsttagen voller Regen und das noch fehlende Radio wird mit dem Navigationssystem überbrückt. Nicht wegen der Navigation, sondern wegen des eingebauten mp3-Players. Stilsicher singen uns Udo Jürgens und Dieter Thomas Kuhn die Schlager vergangener Jahrzehnte vor, der NSU Vierzylinder schnurrt seinen trockenen Bass als Untermalung und draußen malt die Oktobersonne die ohnehin bunten Bäume herbstlich golden. Mein Töchterchen darf vorne sitzen. Hinten gibt es keine Kopfstützen und keine Gurte. Vorne gibt es nur keine Kopfstützen. Also ein veritables Sicherheitspaket für eine fast 9-jährige, oder?
Schleswig-Holstein platzt förmlich vor schönen Orten, die man mit seinem Kind und einem alten Auto besuchen kann. Gerade, wenn das Wetter mitspielt. Seien es die Landhotels im gutbürgerlichen Charme alteingesessener Dorfgemeinschaften, markige Fischbuden mit umfangreichem Lollidisplay und echter Strandmuschelauslage oder – ja, oder das gute alte U-Boot bei Laboe. Auf dem Kieler Ostufer.
Sollten Sie aus dem Norden der Republik kommen oder hier oben einen Urlaub planen – Laboe ist eine Reise wert. Am Rande der Kieler Förde steht das alte U 995 und das Ehrenmal, beide begehbar, beide nicht nur für kleine Mädchen ein echtes Highlight. Der K70 stiehlt zugegebenermaßen hier und da die Schau, es ist mir fast peinlich, wie viele Menschen auf dem Parkplatz stehen bleiben und in Entzücken ausbrechen. Ist es die Farbe? Ist es die Form? Oder hatte wirklich JEDER über 40 schon mal so ein Auto oder einen Vater, der so ein Auto hatte? Mira und ich mümmeln unser Backfischbrötchen und beschließen, durchs U-Boot zu klettern!
Aye Kameraden! Das muss das Boot abkönnen! Zwei mal 1400 Diesel-PS!!! Johann, läuft der Diesel? Hin- und hergerissen zwischen dem Tod von 135.000 Menschen allein auf den Kriegsschiffen im 2. Weltkrieg, der Faszination der uralten Technik dieses Bootes und dem pädagogischen Wunsch, meinem Kind klarzumachen, dass so etwas nie wieder passieren darf gleiten wir zwei durch die Geschichte. Gänsehaut garantiert.
Einmal den K70 von oben sehen? Kein Problem. Das Ehrenmal in Laboe beherbergt einen weit zu sehenden Turm, der erklimmbar ist. Einen Fahrstuhl soll es wohl geben, doch habe ich diesen seit meines ersten Erscheinens hier (1984???) niemals von innen gesehen. 339 Treppenstufen zählen wir bis auf die obere Plattform, die wegen der ganzen psychopathischen Runterhüpfer inzwischen vergittert werden musste. Innen im Turm kann man sich allerdings noch immer unverdrahtet das Leben nehmen, wenn man es möchte. Hier geht es ECHT hoch nach oben, nichts für Menschen, die manchmal träumen, dass sie auf einem hohen Gebäude stehen, welches gerade umkippt. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich schmelze in dem wunderbaren Gefühl, was sich in mir ausbreitet, als meine Tochter von einem großartigen Tag spricht, von einem wunderschönen Erlebnis und von dem besten Papa der Welt. Abstieg. Rückweg. Udo Jürgens, ständiger Wegbegleiter meiner Kindheit, hat schon viel zu lange gewartet…
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Gute Nacht Freunde. Es ist Zeit für mich zu geh’n. Was ich noch zu sagen hätte dauert eine Zigarette und ein letztes Gals im Steh’n. Nicht Udo J. sondern Reinhard M., aber trotzdem treffend.
Auch wenn wir nicht über den Wolken sind, sind wir doch trotzdem auf einem hohen Retro-Niveau. Was geht schon über Pflaumenkuchen bei Mama (Oma), ein Auto aus der Zeit, als meine eigene Familie noch eine kleine intakte Familie war und einem 8-jährigen Kind des neuen Jahrtausends, was alle Texte von Udo Jürgens mitschmettert? Die Welt ist schön. Dieser VW (NSU) K70 reißt immer und immer wieder alte Geschichten auf, aber vielleicht sind es nicht die schlechtesten. Und wenn ich einmal überlege, wieviel Geld mich und meine Krankenkasse ein Psychotherapeut kosten würde… Der 1971er VW K70L in Goldmetallic bekommt nun noch ein Finish, bevor irgendwann das H-Kennzeichen ihn zu weiteren Reisen in die Vergangenheit legitimiert. Bleiben Sie geduldig und dabei. Es ist vielleicht nicht alles Gold, was glänzt. Aber der KaSi glänzt ja auch nicht. Er ist matt. Mit 38 Jahren (da fängt das Leben an) darf er das auch sein.
Sandmann
Einfach Klasse, so eine Fahrt im K 70 ist doch immer wieder ein wenig wie Urlaub, der Blick über die Motorhaube, alle vier Fahrzeugecken perfekt im Blick; zeitgenössiche Schlager dazu. Mensch, was willst du eigentlich mehr? Und was höre ich da im Video? Wenn ihr mal von die Ost- an die Westküste übersiedelt, in meinem Gospelchor habe ich sicher noch Platz für einen Baß und eine Sopranistin… 😉
Hihi 😀
Na ja, wenn die Tonqualität der Kamera besser gewesen wäre hätte man noch GANZ andere Nuancen raushören können. Die nächste Tour ist schon beschlossen, wir machen sowas ja am liebsten im Herbst. Man wird es lesen…
Viele Grüße an die Westküste!
Sandmann