Irgendwas ist anders als sonst. Im winterlichen Hamburg singen eine Heckenbraunelle, eine Tannenmeise und ein Rotkehlchen. Ich habe das kleine viertelfinnische Sandmädchen
- warm eingepackt,
- in ihren gemütlichen Fellsack in der Karre gestopft,
- will mit ihr grad zum abendlichen Einkaufen schieben und
- gucke wie immer verliebt zu meinem Auto rüber…
… und irgendwas sieht anders aus. Nein, es sind nicht die schlimmen 15-Zoll Alufelgen vom vergangenen Scorpio, die sind wie immer. Es ist auch nicht die Tatsache, dass der Wagen vorn trotz schwerem Sechszylinder höher ist als hinten. Das kenne ich ja schon. Viele Vögel singen. Seltsam. Auf dem straßenseitigen Vorderrad des Taunus liegt eine Tüte. Habe ich die nicht bemerkt, als ich vorgestern rückwärts seitwärts in die Parklücke gezirkelt bin? Klebt die da schon länger? Oder was ist das? Ich lasse den Kinderwagen stehen, gebe meiner Tochter noch eine hochkomplizierte Rechenaufgabe als Ablenkung zu lösen und stiefel auf die andere Straßenseite, mal nachsehen.
Eine heimliche Verehrerin?
Ich habe mich daran gewöhnt, dass meinem Auto ab und an ein kleines Herz in den sommerlichen Staub oder das winterliche Eis gemalt wird. Von wem, das weiß ich nicht. Es muss ein Liebhaber alter Taunen sein, mir selbst kann das ja nicht gelten. Oder? Romantische Vorstellung. Zur stilvollen Untermalung flattert mir ein Buchfink um den Kopf, ein Hausrotschwanz schmettert sein Lied von einem Ast hoch über mir und eine bräsige Ringeltaube ist auf Brautschau. Wehe, euer Nest wird wieder auf unserem Balkon gebaut! Wo kommen denn die ganzen Vögel her? Weiß ich nicht. Von wem der Baumwollbeutel auf dem linken Vorderrad kommt weiß ich allerdings ebenfalls nicht. Oft liegen da nicht Sachen, die da nicht hingehören. Und Taschen noch weniger. Kurzer Check in meinem löcherigen Kopfregister… hab ich irgendwann mal irgendwo was vergessen? Etwas, was mir nun zurück gebracht wurde? Von einem Kita Papa oder eine Kita Mama? Von einem Elternteil aus der Schule, was mein Auto kennt, aber nicht die Adresse? Ich vergesse ja eine Menge, aber mit fällt nichts ein. Spannend.
Der besagte Beutel ist sauber und mit einem schönen Hamburg Motiv bedruckt. Er knistert leicht. Und er explodiert nicht in dem Moment, wo ich ihn aus dem Radkasten ziehe. Schlimm genug, dass man so etwas überhaupt denkt, aber das ist wohl seit dem 11. September so. In ihm ist etwas hartes, flaches, flexibles. Warum liegt sowas auf dem Reifen meines Autos? Auf dem Reifen irgend eines Autos? Sonst stecken doch immer nur kleine Karten in der Fensterdichtung, auf denen der unkomplizierte Ankauf des Fahrzeugs (jetzt oder später) angeboten wird? Manchmal kackt auch ein Eichhörnchen auf das Vinyldach, ja, Altona Nord ist sehr tierreich. Marder gibt es hier keine, seit ein kleiner roter Polo alle mit einer unfassbar nervigen elekto-akustischen Anlage vertreibt. SIIIIIIIIIHHHHHH klick. SSSSSS. iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhhhh. Das Auto meiden auch alle Vögel im Umkreis von 50 Metern, und ich frage mich, wann ich den ersten Rentner finde, dem bei dem Geräusch der Schrittmacher stehen geblieben ist. Aber das ist eine andere Geschichte. Der Polo part woanders, heute zwitschern die Dezembervögel lauter als sonst. Ist das da nicht ein Kleiber?
Bücher? Hefte? Gar Comix?? Ah, nein. Haha, das ist ja abgefahren! In einer Plastiktüte, vorsorglich gegen den unberechenbaren Hamburger Regen, stecken zwei Reparaturanleitungen für den Ford Taunus! Das gute alte „Jetzt helfe ich mir selbst“ vom unsterblichen Herrn Korp, das ich auch schon für meinem ersten Taunus anno 1990 neu erwarb. Aber nicht mehr besitze. Und die blau/weiße „Reparatur-Anleitung“, die war mir damals zu technisch und zu teuer, heute kann ich die sehr gut gebrauchen. Ja wie? Und keine Nachricht, kein Zettel, kein ausgefüllter Überweisungsträger den ich nur noch unterschreiben muss? Hat mir da einfach so jemand anonym zwei Werkstatt-Anleitungen für mein Auto geschenkt, die er nicht mehr brauchte? Das kleine viertelfinnische Sandmädchen mosert am Straßenrand leise vor sich hin, eigentlich wollte sie durch den Kiez geschoben werden und nicht mir zugucken, wie ich was aus dem linken vorderen Radkasten rausziehe und dabei den Vögeln lausche.
Wohnte ich nun auf dem Dorf, hätte ich Verständnis. Für das viele Gezwitscher und für die milde Gabe. Dann wären da sicher noch ein Glas selbstgemachte Marmelade und eine Einladung zum Schützenfest dabei gewesen. Aber der Taunus steht in Hamburg. Hamburg ist eine Stadt mit fast 2 Millionen Hipstern, Irren, Punks und Hafenarbeitern. Da rechne ich weder mit Selbstlosigkeit noch damit, dass mir jemand überhaupt etwas schenkt, ohne dafür mindestens meine Mailadresse für Werbezwecke haben zu wollen. Und ich rechne nicht mit Singvögeln. Ich bin berührt. Wer das wohl war? Ich parke hier oft, in der Nähe der Wohnung meines halbfinnischen Fräulein Altonas. Das Coupé dürfte bekannt sein.
Mich beschleicht ein angenehm vorweihnachtliches Gefühl, während eine profane Amsel keck ein Lied tschilpt. Vielleicht ist die Welt da draußen ja doch gar nicht so schlecht, wie das viele behaupten. Wenn ich jetzt weiter brav bin und immer meinen Teller leerfutter, dann liegen vielleicht bald eine neue Hinterachse und eine neue Kardanwelle auf dem rechten Vorderrad? 🙂 Mein großes viertelfinnisches Sandmädchen glaubt ja noch immer, ich hätte die Handynummer vom Weihnachtsmann. Hm. Vielleicht rufe ich den diesbezüglich mal an.
Sandmann
Vor vielen, vielen Jahren habe ich mal was ähnliches gemacht. Da sah ich im Ort einen 43er Audi (SO lange ist das schon her), bei dem der Blinker kaputt war. Ich hatte noch einen und brauchte ihn nicht mehr. Da habe ich ihn kurzerhand unter den Wischer geklemmt.
Adios
Michael
Wie cool.
Dann bist du auch so ein Weihnachtsengel? Ich klopp immer alles, was ich noch rumliegen habe und nicht mehr brauche zum Karitas-Preis bei ebay raus. Hier parken schlicht zu wenig Autos, auf die das passen könnte…
Da fällt mir deine Mofa ein. Die hol ich die Tage mal ab und lager sie trocken ein.
Sandmann
Das ist ja so brutal süss, dass es mir fast ein tränchen in meine zynismus-gegerbten Augenringe getrieben hätte!
Da könnte einem ja fast der Glaube an die Menschen ein bisschen wiederkommen….
Nee, doch nicht. 🙂
Ay Maik,
vor allem hat es mich in einer ansonsten doch recht unpersönlichen Großstadt wie Hamburg überrascht und gefreut. Doch doch, ich glaube an die Menschheit. Ich mag Menschen immer noch nicht, aber ich mache immer mehr Ausnahmen 🙂 Alles wird gut.
Sandmann