Eine Woche jenseits der Akustik. Raus aus Kiel, raus aus Hamburg. Raus aus dem Lärm, den Baustellen und den hektischen Stadtteilen voller geistig nicht zurechnungsfähiger Nihilisten. Nicht in einen niedersächsischen CenterParc mit Ballermann-Kinderbespaßung und All-Inclusive-Verpflegung nebst 24-Stunden-Alkoholflatrate, sondern in ein finnisches Haus an einem finnischen See, ohne Nachbarn. Die Kinderbespaßung übernehmen wir selbst (das nennt man „Familie“) und zu essen gibt es auf Birkenholz gegrillte Saunawürste mit süßem Senf und penibel dosiertes, sündhaft teures Dosenbier. Eine Welt voller Wald mit leckeren Beeren, duftenden Kiefern und Mücken. Und Stille. Eine epische Stille.
Mit kleinen Kindern in einem einsamen Häuschen? Oha.
Ja, oha, zumindest dachten wir beide oha als mein halbfinnisches Fräulein Altona und ich um die Weihnachtszeit herum finnische Internetseiten durchwühlten. Oha, also mein oha, kommt immer noch von den vergleichsweise stattlichen Preisen, die hier für eine Woche selbstverpflegende Auszeit am See aufgerufen werden. Obwohl ich das ja eigentlich weiß, vor sechs Jahren waren wir schon einmal in der Gegend. Finnland ist teuer. Punkt. Wenn man das nicht will, dann bleibt da immer noch der oben genannte CenterParc. Das schubst einen Ruhesuchenden zwar vom Regen in die Traufe, aber irgendwas ist ja immer 🙂 Ihr oha basiert eher auf dem Gedanken, ob es wohl vielleicht eine echte Herausforderung sei, mit einem sechsjährigen viertelfinnischen Sandmädchen und einem halbjährigen viertelfinnischen Sandmädchen eine Woche ganz ohne Impulse von außen in einem Häuschen zu verbringen, was auch gut als einsamer Schauplatz eines Verbrechens in einem Roman von Stephen King mitspielen könnte. So durchgerockt, wie wir gerade sind. Wird das nicht langweilig? Wir gucken uns ein paar Sekunden an und sind uns einig – Langeweile? Was für ein wundervoller Gedanke nach so einem umtriebigen Jahr! Also auf ins Nicht-Abenteuer!
Ihr bekommt in Finnland quasi kein Haus gemietet, das nicht an einem See liegt. Außerdem ist der
- Bootsteg mit eigenem
- Ruderboot obligatorisch, genauso wie die
- Sauna, die
- Grillhütte und der
- Kaminofen.
Oft steht das alles gar nicht in den Beschreibungen der Häuser, denn es ist sowieso alles immer dabei. Der gemeine Finne nutzt sein Mökki meistens auch quartalsmäßig selbst, dieses Land hat so wenige Einwohner und so viel Platz, dass sich mindestens jeder Städter draußen auf dem Land an irgendeinem See ein Holzhäuschen baut. Mit Boot, Steg, Grillhütte, Sauna und Kaminofen. Der Zustand der Häuser ist dementsprechend gut, wenn man so etwas selbst bewohnt, begrillt, berudert und befeuert setzt man sich gewisse Standards.
Mit dicken Schwimmwesten paddeln meine Große Kleine und ich eine große, langsame Runde über den flachen See. Einmal um die kleine Insel herum, auf der bestimmt ein Piratenschatz vergraben liegt. Während sie noch schwärmend über goldene Dublonen und Perlenketten philosophiert, setze ich das Boot auf einen dicken Stein, der knapp unter der Wasseroberfläche schimmert. *knaaaarzzz* So ähnlich muss sich das angehört haben, als die Titanic auf den Eisberg gefahren ist. Die Vorstellung, jetzt hier draußen zu sinken und meine kleine Nichtschwimmerin auf dem Rücken zum Steg zurück zu befördern behagt mir nicht. Muss sie aber auch nicht. Kein Wassereinbruch, alles gut, ich rede nicht drüber, lächel und rudere oberflächlich entspannt wieder zurück. Das ist ganz schön anstrengend 😉 Aber wir haben auch ein kleines, ferngesteuertes Billig-Boot dabei, das kann sie sogar selbst lenken. Das ist weniger havariegefährdet.
Die Langeweile, auf die ich mich so gefreut hatte, will irgendwie nicht kommen. Die Große lässt das Boot über den See zischen, püriert mit ihm flach wachsende Schlingpflanzen und scheucht unvorsichtige Wasserläufer auf. Die hat Spaß. Im Hintergrund robbt die Kleinste, die gerade die Möglichkeit der individuellen Vorwärtsbewegung für sich entdeckt hat, unter den beaufsichtigenden Augen ihrer Mutter über den Rasen und mampft ein paar Waldameisen.
Den Rest des Nachmittags stromern die kleine Kapitänin und ich durch den dichten Wald, in dem manchmal Autos rumliegen, und suchen kleine Äste, Tannenzapfen und Gräser für einen Traumfänger. Man kann diese Geflechte auch auf der Kirmes oder dem Weihnachtsmarkt kaufen, aber mit ein bisschen Draht sind die schnell selbst gemacht. Ihre Träume, ihr Traumfänger. Zufrieden sitzen wir am Abend mit zerpieksten Fingern und Mückenstichen auf den Armen vor unserem Stephen King Haus und gucken auf ein klassisches „Blair Witch Project“ Gehänge, um mal bei den Filmen zu bleiben 🙂 Ich bin ein bisschen stolz.
Ich mache heute noch dreimal Feuer. Feuer Nummer 1 wird mit trockenem Birkenholz in der kleinen Grillhütte entfacht. Birkenholz ist hier das allgemein anerkannte Mittel der Wahl, wenn es um die Erwärmung von Fleisch geht. Da es wie Papier brennt und im Vergleich zu Eiche nicht sehr heiß wird, nimmt man eben etwas mehr davon. Wenn es in Finnland von einem Rohstoff genug gibt, dann ist das Holz.
Der Grill in der Hütte ist genauso einfach wie genial. In einer eisernen Schale brennt das Holz so lange, bis nur noch die Glut übrig ist. Dann wird gegrillt. An den drei seitlichen runden Stangen sind verschieden große Grillroste schwenkbar verankert, die sich in ihrer Höhe verstellen lassen. So kann man gleichzeitig das Fleisch, etwas weiter oben das Gemüse und bei Bedarf am Rand sogar die Kaffeekanne erwärmen. Schmeißt euren wohnwagengroßen Weber Gasgrill mit Smoker und Bratenthermometer weg – mehr als das hier braucht kein Mensch 🙂 Während sich hier die Grillglut bildet, geht’s im Haus weiter mit dem Zündeln.
Feuer Nummer 2 basiert auch auf Birkenholz und soll auch Fleisch erwärmen, aber anders. Die Sauna mitten im Haus hat nicht etwa einen Drehstromanschluss und einen klinisch reinen Elektroofen mit Display und Zentralrechner, nein nein. Sie wird mit Holz geheizt, und das extrem effektiv. In rund einer Stunde bringen die weißlichen Scheite den Raum auf über 80 Grad, also genau richtig, um mitten im Sommer die finnischen 17 Grad da draußen für wundervoll durchgeglühte Momente zu vergessen. Dieses Stündchen ist genau die Zeit, die wir für’s Essen einplanen. Knack knister. Wie das duftet.
Finnisches Grillgut. Nun sind die „Sauna Makkara“ sicherlich nicht jedermanns Sache. Vor sechs Jahren fand ich die noch ziemlich ekelig, diesmal geht’s. Stellt euch eine kleine, dicke Schinkenwurst vor, die an den Enden eingeschnitten wird und innen die Konsistenz von Leberwurst hat. Die lässt man dann aus Versehen etwas anbrennen, weil das kühle Karhu Pils so lecker schmeckt und von den eigentlichen Aufgaben ablenkt. Zu Tisch drückt man auf diese Würste dann süßen Senf, freut sich über die verzogenen Gesichter der Kinder („Mama ich nehme lieber noch ein bisschen Paprika…“) und die daraus resultierende Mehrwurst und kommt zu der Erkenntnis, dass man das eigentlich ganz gut essen kann. Mit genügend Bier dabei, was die Sache preislich hier oben schon wieder zu einem fünf-Sterne Dinner hebt. Mijam.
Wenn mir mal die Geschichten ausgehen, fotografiere ich auch in der Sauna. Noch ist es aber nicht so weit, deshalb kommt hier ein kleiner Zeitsprung. Ich bin wundervoll durchgewärmt, beide Kinder schlafen und das halbfinnische Fräulein Altona lümmelt auf dem Sofa im Wohnzimmer rum und liest die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, auf die sie sich schon seit Monaten freut. Ich widme mich Feuer Nummer 3, das Entfachen meiner Pfeife.
Das ist ein sehr besonderer Moment.
Ich rauche ab und an Pfeife, seit ich in Kiel in den frühen 90ern meine Ausbildung begonnen hatte. Ich konnte nie etwas mit Zigaretten anfangen, nur hier und da wanderte mal ein Zigarillo in meinen Mundwinkel. So selten, dass ich mit einer Packung zwei Monate auskomme. Eine Pfeife verströmt Gemütlichkeit. Man kann sie nicht schnell mal nebenbei rauchen. Man muss sich in Ruhe setzen, die ganzen Utensilien aus dem Täschchen holen und sie sauber stopfen. Dann wird sie langsam eingeraucht, nicht zu hektisch, dann wird sie zu heiß. Ab und an stopft man den sich langsam setzenden, knisternden und duftenden Tabak nach, wie stark, das bekommt man mit der Zeit schon raus. Das ganze Ritual mit dem fruchtigen, weißen und fast kalten Rauch dauert fast ein Stündchen.
Dieses Stündchen hatte ich im vergangenen Jahr nur selten. Es war privat und beruflich so viel los, da geht eine Pfeife schnell mal unter. Hier, im Urlaub in Finnland, komme ich mal wieder dazu, eine zu rauchen. Und auch zu lesen (Stephen King, gniihihihi…). Und das zeigt mir, dass es langsam wieder in eine gute, entspanntere Richtung geht. Ein wirklich besonderer Moment. Mit Vanille Aroma.
Es gibt noch mehr Besonderheiten an diesem Abend. Meine drei Frauen schlafen inzwischen alle. Nicht etwa, weil sie sehr früh ins Bett gehen würden, nee nee es ist schon nach 23:00 Uhr. Es wird hier einfach nicht richtig dunkel. Der See liegt glatt und fast unbewegt da, kein Lüftchen regt sich. Wer schon einmal in Finnland war wird wissen, dass alle am Ufer der Seen immer sehr leise reden. Weil der See trägt. Du hörst hier deutlich, wenn auf dem gegenüberliegenden Ufer ein Elch pupst. Gibt es hier überhaupt Elche? Weiß ich nicht, es pupst aber gerade auch keiner, denn es ist absolut … … … still. Der Kontrast zu Hamburg, wo die ganze Nacht Geräusche zu hören sind. Die Straßen, die Stimmen aus den anderen Wohnungen, parkende Autos, der Hafen, die Flugzeuge. Selbst im beschaulichen Kiel ist die ganze Nacht etwas zu hören. Hier nicht. Kein Wind, keine entfernte Autobahn. Die meisten Tiere schlafen schon, ab und an macht es mal kurz *plitsch* wenn ein Fisch sich einen Wasserläufer gemopst hat. Ansonsten – Stille. Absolute Stille.
Wie episch, einmal nichts zu hören. Die Natur zu atmen und dann vielleicht doch noch einen kleinen Zigarillo zu dampfen. Ich habe das Gefühl, dass das Knistern des abbrennenden Tabaks beim Ziehen bis über den See zu hören ist. Aber da ist ja eh niemand. Nein, ich war noch nie ein Landei und ich werde auch keins. Ich brauche prinzipiell Leben um mich herum, einen Supermarkt und kurze Wege zur Kita und zur Schule. Ich will nicht das Wochenend-Taxi für Teenager spielen müssen und meide die Besäufnisse der freiwilligen Feuerwehr, die Pfadfinderaktionen der Landjugend und das Schützenfest mit seinen grenzdebilen, dreiohrigen Cola-Korn-Trinkern. Aber hier und jetzt, mit ausschließlich allem Guten der Einsamkeit, mag ich das Leben gerade ganz gern. Das wollte ich endlich wieder erfahren. Hier, mit meiner kleinen Familie im wundervollen Nichts der finnischen Seen lädt mein Akku wieder auf. Und mit den schlechten Träumen ist es jetzt auch vorbei.
Hört mal. Hört ihr was?
…
Ich hör nix. Aber wir lesen uns. Bald.
Sandmann
Genau so! Bestens beschrieben. Ich liebe dieses Land. Das sündhaft teure Olut kann man übrigens umgehen. 😉
Im übrigen, Pfeife rauche ich auch. An genau solchen Orten und Momenten. Weil es dafür Zeit und Ruhe braucht. Du hast das wunderbar benannt. Danke für diese schöne Geschichte.
bronx
Bester Bronx,
was ich halt wirklich gemerkt habe ist das parallel gehen von Entspannung und einem Pfeifchen. Das ist im Kopf zwar klar, aber als ich da so saß und mir die erste Pfeife seit Monaten entfachte habe ich tatsächlich zum ersten Mal diesen Moment gespürt, auf den ich mich seit rund einem Jahr gefreut hatte: Langsam regelt sich alles, wenn man die Weichen selbst stellt und dranbleibt. Jammern und alles scheiße finden, ohne dass man aber selbst Hand anlegt und sein Leben formt, das ist nicht gesund. Und so ticken leider viele.
Ich bin grad selbst gewählt durch das glaube ich krasseste, arbeitsreichste, schlafloseste und selbstaufgebende Jahr meines Lebens gegangen. Und jetzt scheint langsam die Sonne. Es gibt Momente, an denen ich wieder Jens bin, erwachsen und mit Platz im Kopf. Und diese Momente werden mehr.
Das fühlt sich echt gut an. Darauf mal ein gemeinsames Pfeifchen!
Sandmann
Hi Jens,
danke für den hoffnungsgeschwängerten Beitrag! Ich habe ja so unterschwellig die Bedenken, dass zukünftige Generationen mit „Langeweile, oder Zeit tot schlagen“ gar nichts mehr verbinden, weil niemand mehr nie nichts macht. Jeder diddelt und dattelt und vergisst dabei, wie schön Nichtstun sein kann. Ich glaube, es ist eine Gabe, sich dem in Genugtuung aussetzen zu können, oder das Leben hat einem gelehrt, genau das zu tun, wenn´s dran ist. In dem Zusammenhang habe ich auch mal nach der Bedeutung des Wortes „episch“ geschaut, da du das ja gerne nutzt. Das paßt schon ziemlich gut gerade. Und nach so skandinavisch-genussvollen Berichten setzt die totale Entspannung ein. Richtig episch alles, danke… 😉
Herzlich grüßend, Dirk
Ay Dirk,
das freut mich, dass ein Funken von Entspannung bei dir angekommen ist. Für mich sind diese kleinen Reiseberichte wie ein Tagebuch. Da gehts ja nicht sonderlich viel um Autos, und die Klicks sind nicht mal halb so viele wie bei anderen Artikeln hier – aber darum geht es mir ja auch nicht.
Wenn ich jetzt mal 10 Jahre zurückspringe und mir meine kleinen und großen Reisen da angucke… wow. Da gab es immer diese ruhigen Momente. Manchmal waren die auch mit einem Hauch Traurigkeit belegt, aber meistens waren sie das, was ich von einem Urlaub erwarte: Erholsam.
Ich erinnere mich noch gut, als ich für mein Staatsexamen lernte, schrieb und schwitzte. Ich nahm mir damals vor, wenn ich alles hinter mit hätte, dann würde ich mich in Kiel drei Stunden lang an den Weiher setzen und einfach nur den Enten zugucken. Diese Vorstellung reifte in meinem lerngebeutelten Kopf zu einem großen Wunsch. Und als ich dann tatsächlich meine letzte Prüfung hinter mit und die Examensarbeit abgegeben hatte – da setzte ich mich an den Weiher und guckte drei Stunden den Enten zu. Es waren wundervolle drei Stunden 🙂
Ja, ich kann sehr gut mal gar nichts machen. Ich nutze auch nicht jede Autofahrt für Telefongespräche, und wenn ich mal in der Bahn sitze gucke ich auch gern einfach aus dem Fenster. Ich brauche diese ruhigen Momente. Das Gehirn kann nicht den ganzen Tag drehen, das macht krank.
Sandmann
Yepp, so ist das. So sehr ich ja auch Autos, die Menschen und die Stories dazu mag, die wirklichen Rosinchen sind eben genau diese basalen Sachen.
Im Herbst menschelt es in meinem Umfeld erfahrungsgemäß auch wieder mehr. Alle bekommen den Blues, das Jahr geht zu Ende und das Wetter wird schlechter.
Da wird es wieder den einen oder anderen Fellini Moment geben…
Sehr angenehm zu lesen 🙂
Das wäre auch was für mich, so ein einsames Häuschen.