Kitengela

Das Ende aller Sehnsucht

Das Ende aller Sehnsucht

Der Ort ist einmalig. Der Ort ist unheimlich. Der Ort ist total verrückt.
Südöstlich von Nairobi wird aus Altglas Kunst (und neues Glas) gemacht, und es wird esoterischen veranlagten Künstlern mit Übernachtungswünschen das Paradies auf Erden geboten. Mit einem Bett zum Schlafen. Und einem Essen zwischen vielen Tieren. Kitengela lässt mich mit leichten Wortfindungsstörungen zurück und macht mir Angst, vor allem, weil es so anders ist. Es ist die letzte Etappe unserer Afrikatour, ich bin zwar kein Künstler im Sinne dieser Kommune, aber auch normal sterbliche Menschen können sich hier für eine Nacht in den entbehrungsreichen Wahnsinn treiben lassen. Hier lauern mehr Gefahren als das RTL Dschungelcamp in allen Staffeln zusammen aufbringen konnte, hier vereint sich der Okkultismus der Osterinsel mit dem einsamen Pathos der Cadillac Ranch und hier stellen sich Kamele noch persönlich vor.

Ein neuer Tag beginnt ganz harmlos in einem neuen Geländewagen.

Fröhliche Anreise im Familienauto

Fröhliche Anreise im Familienauto

Als wir mit dem W123 von C.Resch gediegen (zu Mozart ♫) über den Ostafrikanischen Graben geflogen sind war die Welt noch in Ordnung. Zumindest saß ich vorn, wenn auch auf der falschen Seite. Heute sind wir alle zusammen nur in einem einzigen Auto unterwegs, wir, das sind der Diplomat, seine Gemahlin, die beiden Thronerben, mein halbfinnisches Fräulein Altona, das viertelfinnische Sandmädchen und drei Kindersitze plus Gepäck für eine Nacht. Ach ja, und ich. Argh. Hinten quer im Geländewagen saß ich das letzte Mal, als wir 1979 mit dem Land Rover unserer Nachbarn zum Spielen in den Wald fuhren. Danach war mir so kotzelend, dass ich die schönen Spaghetti mit Bollo quer über den Parkplatz zerstäubte, und ich bin mir sicher ob ich damals nicht schon einen nachhaltigen Wirbelsäulenschaden davontrug. Ach ja, die 70er. Heute ist mir erstaunlicherweise nicht kotzelend, dafür poltern der gestandene (nun sitzende) stellvertretende Botschafter für Somalia und ich kreuz und quer im Kofferraum des Nissan Patrol durcheinander, haben unsere zu langen Beine untereinander verfaltet und stoßen auf dem allerletzten Stück der Straße spitze Schreie im Sekundentakt aus. Ich bin um fünf Jahre gealtert und schwer beschädigt. Wer es mit dem Auto nach Kitengela schafft fürchtet weder Tod noch Teufel. Der ist also gut vorbereitet auf das, was ihn da erwartet.

Tiere. Überall Tiere.

Tiere. Überall Tiere.

Ich fege meine gebrochenen Arme und Beine aus dem peinigenden Kofferraum, hefte sie grob funktionierend an mein verbogenes Schlüsselbein und mein zerbröseltes Gesäß und halte inne. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie sich gerade umdrehen, um die schweren Taschen der Herzdamen herauszuheben und ein paar gebrochene Rippen aufzusammeln – und Ihnen dann jemand auf die Schulter tippt? Jemand sehr pelziges, mit einer sehr feuchten Nase? Also….. ich habe mich entsprechend erschrocken 😀 Ein Kamel! Oder ein Dromedar? Ich konnte später lesen, dass die Anzahl der Höcker keinen klaren Unterschied definiert. Auch ganz ohne Sielmann, Brehm oder Darwin ist dieser Vierbeiner vor allem eins: Groß! Ach nein, er ist noch was: Aufdringlich. Ich kenne seinen Namen nicht und bekomme einen ersten Eindruck verbindlichen vom Tierleben in Kitengela.

Ja hallo erstmal?

Ja hallo erstmal?

Nach Elefanten, Giraffen, Hippos und Zebras ist diese distanzlose Dame (oder ist es ein Herr?) zwar irgendwie echt süß und liebenswert, auf der anderen Seite aber auch massiv und allein auf die Körpergröße bezogen nicht ganz ungefährlich. Das halbfinnische Sandmädchen wanzt längst auf dem Arm seiner Mutter rum und guckt neugierig, aber respektvoll dieses muffige Gebirge von einem Tier an, was plötzlich zwischen uns aufgetaucht ist. Hey. Wir wollen hier unser Gepäck rausholen, könntest du mal…. Äh. Nicht? Würdest du vielleicht……    Haben Sie schon einmal versucht, mit einem Kamel zu diskutieren? Diese Tiere hören einfach nicht zu. Hm. Hallo? … Ach egal. In den letzten Jahren habe ich gelernt, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen und nicht zu jammern. Dann mache ich eben einen Selfie von diesem Kamel und mir, Moment…..

Cheeeeeese

Cheeeeeese

Ich glaube es ist doch ein Mädchen, also diese Wimpern…… Auf du und du mit der Tierwelt. Kann man das noch steigern? Ja. Kitengela Hot Glass ist das Projekt von Nani, die Anfang der 80er Jahre aus Deutschland hier rüber gekommen ist und den Massai ein Stück Land abkaufte. Nach und nach baute sie hier kuppelartige Häuser und Plätze mit Mosaiken aus Steinen und Glas, über allem spannt sich das Dach des in Jahrzehnten selbst gepflanztem Dschungels. Nani engagiert sich in Schulprojekten und fördert die Bildung von Kindern und Erwachsenen in der gesamten Umgebung. Sie tut eine Menge Gutes, eine höchst engagierte Frau. Und Nani bittet zum Essen. Zwischen einer träge vor sich hin kauenden Kuh, ein paar Hunden und vielen sprechenden Vögeln werden Pfannekuchen, frisches Brot und geschnittene Papaya aufgetischt. Haben Sie schon einmal die Papaya Samen im Inneren gegessen? Sie sind pfeffrig scharf, irgendwie fruchtig und extrem lecker! Wieder was gelernt 😉 Nicht jede Dschungelprüfung, die mit Essen zu tun hat besteht zwangsläufig aus Fischaugen oder Krokodilhoden. Mjam. Dazu gibt es Kaffee. Und da diese gebende aber auch fordernde Frau inmitten von Tieren lebt, wundert es mich nur wenig, dass nach ein paar Minuten (die Papageien in den Bäumen haben für einen Moment aufgehört, mich zuzutexten) ein beeindruckend großer Kronen-Kranich angestapft kommt, sich neben ihr aufbaut und zärtlich, aber aufmerksam an ihren Ohren herumschnäbelt. So langsam plättet mich hier einfach gar nichts mehr.

Starke Frau, großes Federvieh

Starke Frau, großes Federvieh

Nein, ich möchte das nicht Gleichgültigkeit nennen. Im Gegenteil. Es ist eher ein Gewöhnen daran, dass auf diesem Kontinent Tiere eine andere Rolle spielen als im grauen Norddeutschland. Sie sind einfach…. dabei. Und hier mitten in diesem Esoterik-Urknall ganz besonders. Auch Vultchie ist eher ein Gesell der entspannteren Sorte, der über 40 Jahre alte Ägyptische Geier sitzt fast unbemerkt unter dem Esstisch und pickt hier und da was auf. Geier?? Ja, Geier. Die Teile, die immer über dem Aas kreisen. Er ist kurz nach dem Verlassen seines Eis in Kitengela abgestiegen, inzwischen fast blind – aber will immer dabei sein. Ein Geier. Ich mag den irgendwie, er sitzt alt und erhaben unter diesem Tisch, guckt freundlich trotz des fiesen Schnabels und freut sich über alles, was er essen kann. Ganz anders als das freche Kamel draußen auf dem Hof. Oder Dromedar?

Geier mit Gnadenbrot

Geier mit Gnadenbrot

Die Sonne wandert langsam durch den Nachmittag und taucht das ganze bunte Glas in ein warmes Licht, was sich funkelnd bricht und skurrile Farben und Muster auf runde Formen zaubert. Inzwischen ist mir klargeworden, dass ich an einem der Top 10 schrägen Orte in meinem Leben bin und noch nicht so recht weiß, wie ich damit umgehen soll. Flucht ist keine Option, wenn ich schon mal hier bin dann bleibe ich auch. Außerdem sind die Bewohner und die meisten Tiere freundlich, und da hinten in der Ecke am Tisch sitzt noch ein Österreicher, den ich glaube ich vorhin an dem uralten Landrover V8 gesehen habe. Womöglich kann ich da noch eine Geschichte machen? Ich betrete das Glashaus und werfe nicht mit Steinen.

Glas soweit das Auge reicht

Glas soweit das Auge reicht

Hier sieht alles bunt und sehr hundertwasserig aus, alles ist rund, keine symmetrischen Kanten, überall hängt Kram rum und das meiste kann man kaufen. Wenn man’s mag, könnte man diesem Ort eine gewisse Farbenpracht abgewinnen, zumindest so lange es noch einigermaßen hell draußen ist. Abgefahren. Ein anderes Wort finde ich dafür einfach momentan nicht. Meinen Geschmack trifft hier keine einzige Glasscherbe, diese künstlerische Esoterik mit einer tiefen Erdverbundenheit habe ich noch nie verstanden – aber für eine Nacht mache ich das einfach mal mit. Überall klüngelt es, funkelt es und spiegelt es. Ich wundere mich, wie viel Glas es auf dieser Welt gibt und träume mich kurz in den schlichten, plüschigen Innenraum eines Chevy Caprice mit Holzfurnier und Radiowecker-Armaturen.

Spieglein, Spieglein an der Wand...

Spieglein, Spieglein an der Wand…

Die gesamte Region kippt hier ihre alten Flaschen auf den Hof. Nanis Sohn Anselm, mit dem sie der Geschichte nach mal mehr und mal weniger zerstritten ist schmilzt die Flaschen in fauchenden Hochöfen ein und stellt aus der flüssigen Masse Gebrauchsglas her. Also Gefäße für jeden Tag. Mutter Nani hat den künstlerischen Weg eingeschlagen und kümmert sich in der Manufaktur um alles andere, was sich so aus Glas machen und verkaufen lässt. Mosaike, Spiegel, Gehängsel, Lampen, Bilder, alles hier ist aus Glas! Außerdem reist sie in der Gegend herum und restauriert mit ihrem Team bleigefasste Buntglasfenster von Kirchen und anderen Häusern, in denen bleigefasste Buntglasfenster verbaut wurden. Das eigene Territorium ist konsequent aufgebaut, in den grauen Rundbauten lassen bunte Glassplitter das letzte Sonnenlicht in die Räume fallen. Zwischen den irgendwie gruseligen Wohnkuppeln aus Beton und Glas wachsen hohe Bäume auf den harten Felsen, wir befinden uns zu allem Überfluss am Rand einer tiefen Schlucht, auf deren anderer Seite ein Wildreservat ist. Über uns leben Affen. Viele Affen. Freche Affen, wenn Ihnen schon einmal unerwartet ein kompletter Reiscräcker im Vorbeiflug aus der Hand gerissen wurde tragen Sie vielleicht ein nennenswertes Trauma davon. Ich bin ganz froh, dass es nicht meine Tochter erwischt hat.
Erwischt hat es während unseres kleinen Rundganges durch den Glas gewordenen Traum einer 60jährigen allerdings unsere Lebensmittel. Affen. Alles kaputt, alles gegessen, alles verteilt.

Die Affen rasen durch den Wald

Die Affen rasen durch den Wald

Habe ich mich jemals über Ameisen aufgeregt? Glauben Sie mir, es gibt Tiere, die wesentlich nervtötender sind. Kleine Mistviecher. Pelzige! Das mit der Schlucht hier ganz in der Nähe allerdings interessiert mich mehr und mehr, da will ich mal hin. Und die anderen wollen auch mit, vorher verpacken wir aber alle noch verbliebenen Essensreste sicher in der Küche und sperren die Eingangstür und alle Fenster gut zu. Unterwegs treffen wir auf Skulpturen aus Metall, Lehm und Glas. Skulpturen, die eine Menge über den Gemütszustand ihrer Erschaffer verraten. Vielleicht habe ich aber auch nicht den richtigen Blick dafür. Ich beschließe, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in unserer Wohnkuppel zu sein.

Ich.... äh.....

Ich…. äh…..

Blätter rascheln. Hoch oben kreisen Raubvögel in der Abenddämmerung. Noch weiter oben gleiten noch viel größere Vögel mit entflammten Lichtern runter zum Flughafen Nairobi. Das ganze Gelände scheint zu atmen und zu leben. Überall stehen, liegen oder hängen Zeugnisse der skurrilen Kreativität von Jahrzehnten. Etwas weiter den Berg rauf fauchen die Brennöfen von Anselm Glass. Eine Stimmung wie bei LOST. Plötzlich öffnet sich der Dschungel, und die Schlucht spannt sich vor meinen Augen auf. Eine lange, sehr laaaaaange Hängebrücke führt auf die andere Seite, niemand weiß eigentlich so richtig warum, ich denke mal sie führt da rüber weil Hängebrücken auf Nordeuropäer eine gewisse Faszination ausüben. Auch wenn man da gar nicht rüber muss, man möchte es aber. Mein abenteuerspielplatzerfahrenes halbfinnisches Sandmädchen will definitiv und wortgewaltig mit auf die andere Seite, ich bitte sie, meine Hand ganz fest zu halten…

Was RTL kann können die hier schon lange

Was RTL kann können die hier schon lange

Ich weiß nicht, was zu lesen ist, wenn man die Bauweise von Hängebrücken im Netz googelt. Ich weiß nur, dass die Begriffe vertrauenerweckend, solide, vibrationsfrei oder sicher in den Beschreibungen nicht vorkommen. Mir sind schon die Hängebrücken zwischen den einzelnen Spielplatzhäusern in Hamburg suspekt, und die pendeln TÜV-geprüft einen Meter über dem weichen, sandigen Boden von Altona. Dieses Geflecht hier aus Draht, Seilen und…. GLAS! spannt sich zwischen zwei weit voneinander entfernten Felswänden, ist nach unten quasi offen und führt über einen Fluss, der viele Etagen weiter in Richtung Erdmittelpunkt dahinfließt. Wie weit? 20 Meter? 30? Egal, ich habe mir nicht diesen super Indiana Jones Hut gekauft, um vor einer Hängebrücke zu kapitulieren. Bei RTL führt so eine Konstruktion zu jeder Dschungelprüfung, hier führt es rüber in den Nationalpark. In den ich gar nicht will. Aber ich gehe trotzdem, und meine Tochter hält tapfer meine Hand.

Fit für die Dschungelprüfung

Fit für die Dschungelprüfung

Das Geflecht quietscht und knarzt. Das Geflecht schwankt. Wenigstens ist es hier zu allem Überfluss nicht auch noch windig. Der erhöhte Schwierigkeitsgrad für meine Person besteht lediglich darin, dass ich an der einen Hand eine noch nicht einmal drei Jahre alte (und mit jedem weiteren Schritt vom Ziel der Aktion nicht mehr ganz so überzeugte) Viertelfinnin führe und in der anderen Hand meine Kamera trage. Die teuer war und keinen Schulterriemen hat. Finden Sie den Fehler. Womit halte ich mich fest??? Und womit wehre ich die wilden Tiere ab, wenn sie kommen? Diese existenziellen Fragen stelle ich mir, als wir schon mitten auf der Brücke schwanken und unter uns der Fluss dahinrauscht. Na super.

Fragen Sie nicht. Fragen Sie einfach nicht.

Fragen Sie nicht. Fragen Sie einfach nicht.

Wenn Sie sich an dieser Stelle fragen, warum ich mehrere Bilder lang über eine Hängebrücke referiere dann kann ich Ihnen als Ausrede mitgeben, dass ich diese 10 Minuten in meinem Leben gern für die Nachwelt und vor allem für mein kleines Töchterchen festhalten möchte. Irgendwann ist sie so alt, dass ihr Verstand derartige Erlebnisse richtig einordnen kann. Und dann wird sie mich fragen, ob ich eigentlich total bescheuert war, dass ich sie da mit rübergenommen habe. Eine ähnliche Frage lese ich auch in den Augen ihrer Mutter, die uns auf der Kitengela-Seite der Hängebrücke wieder in Empfang nimmt. Gut, dass ich dem kleinen blonden Leoparden an der schwankendsten Stelle noch eine weitere Reiswaffel versprochen habe, die sie nun strahlend und lachend einfordert, als wäre nichts gewesen. Gutes Mädchen. Hoffentlich kommen keine Affen.
Mir ist noch ein bisschen unwohler als vorhin, nach der Höllentour über Kenias versammelte Schlaglöcher. Super, dass die anderen jetzt das Abendessen vorbereiten möchten. Da nehme ich mir noch die letzten 30 Minuten bis zur endgültigen Dunkelheit und laufe einmal ein Stück den Weg zurück. Irgendwas hatte ich da vorhin durch die Fenster des Autos gesehen…

Touristen herzlich willkommen

Touristen herzlich willkommen

Nein, der war es nicht. Es ist auch nicht das Glas, was die Stimmung drückt. Dieser etwas hagere Typ und alle seine Kumpels versprühen stellvertretend den morbiden Charme der Anlage. Bei aller Freundlichkeit der Besitzerin – die „Kunst“ auf dem Gelände rangiert zwischen bedrohlich und abstoßend. In einer Ecke liegt ein ausgeweidetes Käfer Cabrio, in dem Schafe wohnen. Stahlskelette stehen wie Rippen eines verstorbenen Tieres herum, und wild geformte Tonfiguren mit leeren Augen sehen mich die ganze Zeit an. In den Bäumen hängen Äste, die mit Bindfäden zu skurrilen Traumfängern zusammengebunden sind. Haben Sie das Blair Witch Project gesehen? Ich fühle mich ein bisschen so, als könnte jederzeit eine tote Hand nach meinem Knöchel greifen. Vor der untergehenden Sonne hinter zerrissenen Wolken zeichnet sich die erste Moai Statue der Osterinsel ab. Entweder bin ich in ein Raum/Zeit Loch getreten (was mich nach dem holperigen Hinweg im Heck des Autos nicht wundert) oder es waren andere Kräfte am Werk.

Kontinentalverschiebungen

Kontinentalverschiebungen

Unheimlich. Schon wieder und noch immer. Wollte eigentlich irgend jemand, dass man sich hier gruselt? Oder bleibt mir der künstlerische Sinn hinter allem nach wie vor verborgen? Dann lieber IKEA. Immerhin hat der steinerne Gesell‘ eine Piratenklappe auf, worüber ich dann doch ein bisschen schmunzeln muss. Der Kopf steht hier einfach so rum, mitten auf der Wiese, im Hintergrund weit entfernt die Skyline von Nairobi. Nicht ganz so weit entfernt das Wohnhaus des glasmanufaktierenden Sohnemannes Anselm, gelb, mit in den Himmel rankenden Drachenstatuen verziert. Seit ein paar Stunden frage ich mich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass nur ich bescheuert bin und alle anderen um mich rum nicht. Und nicht umgekehrt. Die Prozentzahl wird mit jeder Minute größer. Aber hey – Sie dachten, Sie sind in einem Autoblog gelandet, richtig? Sind Sie ja eigentlich auch. Ein paar 100 Meter von dem seltsamen Kopf mit dem Augenproblem entfernt steckt ein sehr großes altes Auto in der Erde.

Im Westen nichts Neues

Im Westen nichts Neues

Die Karre ist leicht schief bis fast an die Windschutzscheibe in den Boden eingegraben und erinnert mich an die Cadillac Ranch in Texas. Aber vier Dinge sind anders. 1. ist das kein Cadillac, sondern ein Plymouth. Wenn ich mich nicht irre ein 1967er Fury. 2. ist der nicht-Cadillac alleine hier und nicht in Gesellschaft von 9 anderen Fahrzeugen, die im gleichen Winkel wie er im Boden eingegraben sind. 3. ist dieses….. ich nenne es mal aus Erfahrung auch „Kunstwerk“ …. nicht mit Graffitis besprüht, was auch mit der generellen Einsamkeit dieses Ortes zu tun haben scheint und 4. geht ein breiter, wie ein Haufischmaul gezackter Riss durch den Wagen. Wenn die Cadillac Ranch an der Route 66 den Aufstieg und Niedergang der Heckflossenära symbolisieren soll scheint dieser einsame Vertreter des Full Size mir zu zeigen, dass Dinosaurier noch immer ein Problem für Autofahrer sind. Zumindest in Kitengela.

Ein Riss in der Gesellschaft?

Ein Riss in der Gesellschaft?

Schon wieder donnert ein landender Jumbo tief über die Ebene und lässt diese ruhige, einsame Szene noch viel skurriler erscheinen. Glauben Sie mir, ein in den Boden eingegrabenes altes Auto mit einem tiefen Riss quer durch das Dach in der Dämmerung ist sehr sehr beängstigend. Faszination Technik hin und Kunst her. Der reflexartige Restaurationswillen in mir ist ungebrochen, vielleicht könnte man mit ein paar Blechen ja noch…. nein 😉 Kann man nicht mehr. Dieses Auto hat hier seine letzte Ruhe gefunden. Und ich werde langsam nervös, denn die Dunkelheit kommt in riesigen Schritten. Immer wieder vergesse ich, wie schnell das hier in der Nähe des Äquators geht. Wollte ich nicht schon längst im Haus sein, bei Frau und Kind und Abendessen? Ich gucke noch ein letztes Mal entlang der Flanke dieses Straßenkreuzers hoch in den Abendhimmel. Er hängt da in der Wiese wie die sich aufbäumende sinkende Titanic. Wem mag er mal gehört haben?

Die Hände zum Himmel

Die Hände zum Himmel

Die Affen schlafen. Das Kamel oder das Dromedar oder was auch immer das vorhin war auch. Die Feuer in den Öfen der Glashütte sind erloschen, die Schornsteine rauchen nur noch ein wenig nach von der Gluthitze. Stille legt sich über Kitengela. Verdammt, ich habe zwischen allen diesen Freakshow-Accessoires die Zeit vergessen, inzwischen ist es fast dunkel und ich funzel mit der Lampe meines iPhones vor mir her, damit ich nicht in eines dieser kleinwagengroßen Schlaglöcher falle. Oder in eine Schlange trete. Oder was weiß ich was hier noch alles passieren kann, alles ist möglich. Während Kitengela schlafen geht erwacht am Horizont Nairobi zum flimmernden Nachtleben. Ein großer Massai steht hölzern auf dem Weg und guckt debil auf einen Kaktus. Ich will hier weg. Jetzt. Dahin, wo warmes Licht durch bunte Fenster fällt.

Gute Nacht, Nairobi

Gute Nacht, Nairobi

Der Weg zurück führt mich vorbei an einem weiteren Kranich, der in der einsetzenden Dunkelheit nicht gut zu sehen ist und sich anscheinend als so etwas wie einen Straßenschreck zu halten scheint. Jedenfalls hängt er vor dem Tor der Glasmanufaktur rum und schreitet gemächlich auf mich zu, während ich versuche, mild lächelnd einen gewissen Mindestabstand zu ihm zu wahren. Wenn der wüsste was man in Europa so alles zu leckeren Abendessen verarbeitet. Schmeckt Kranich? Unter pendelnden Totems schließe ich das eiserne Tor hinter mir, freue mich wie nie zuvor über die Taschenlampenfunktion meines Telefons und denke wieder einmal mehr: Ja, man kann sein Haus so gestalten wie einen Totenschädel. Muss man aber nicht. Ich scheitere ein letztes Mal am Versuch, diese einschüchternde Form der Kunst in mein Herz zu lassen und freue mich über das Schild zum „Pool House“. Vorbei an diesem furchtbaren Ding.

Herzlich willkommen, tritt ein.

Herzlich willkommen, tritt ein.

Nudeln mit Hack und Ketchup *seufz* Und sie sind sogar noch warm. Ich lasse die Eindrücke des Abends von mir abfallen wie Herbstlaub in Niedersachsen, ergehe mich ganz in profaner Pasta und einem halben Liter eisgekühlten kenianischen Bieres. Tusker. Das war also Afrika. Das waren also zwei Wochen auf einem Kontinent jenseits dessen, was ich als Europäer kenne. Als spießiger Deutscher. Ich habe schon leichte Entzugserscheinungen, denke an Staus auf Autobahnen, drängelnde Choleriker in schwarzen Limousinen aus Bayern und rechtschutzversicherte Rentner mit viel zu wenigen Aufgaben, die sie vom uneigennützigen Denunziantentum abhalten könnten. Und ich sehe überall Autos, es wird Zeit, dass es zurück geht 🙂

am Ende alles Autos

am Ende alles Autos

Vermutlich müssen Sie lachen, wenn ich Sie frage, ob Sie schon mal Ihr Kind in einer Betonkuppel mit Fenstern am Rande eines Nationalparks in Afrika ins Bett gebracht haben? In einem Haus, dessen Elektrizität aus Sonnenenergie in Batterien gespeist wird, dessen Wasser niemals warm ist und dessen Klospülung so wenig Druck hat, dass der Kasten fast 30 Minuten braucht, um wieder voll zu laufen? Lachen Sie. Ich genieße derweil diesen Augenblick am Abend, wenn Ruhe einkehrt. Die Kerze auf dem Glasmosaiktisch spiegelt sich fünfmal in den Fenstern, das zweite Tusker ist fast schon zu kalt zum Trinken (der Kühlschrank kann was) und am Horizont, drüben auf der anderen Seite, laufen unzählige Giraffenhälse elegant durch die Dunkelheit.

Diese 15 besonderen Minuten

Diese 15 besonderen Minuten

Das kleine Mädchen, was sich später an all dies nicht mehr erinnern können wird schläft friedlich unter dem Gemückten. Außerhalb dieses Netzes sirrt und flirrt es mehr und mehr und ich beschließe, die letzten Minuten des Abends draußen auf dem Dach zu verbringen. Haben Sie die ersten Teile von Star Wars gesehen? Hier oben, mit Blick rüber auf die andere Seite der Schlucht, sieht es ein bisschen aus wie auf Tantooine. Wie um das zu untermalen donnert ein weiterer X-Wing-Fighter über mich hinweg in Richtung NBO. In Hamburg gibt es ein Nachtflugverbot. In Nairobi anscheinend nicht. Mann ist das alles krass, ist das alles anders und ist das alles abgefahren. Ich werde ein bisschen brauchen, um die Eindrücke in meinem Kopf zu ordnen.

Afrika.Bis bald mal.

Afrika.Bis bald mal.

Africa charmes me with it’s Power ♫ Oder so. Da war mal was in den 80ern. Mit Voodoo und so. Passt ja. Die beiden Frauen die ich liebe schlafen unter mir, nebenan schlafen unsere generösen Gastgeber und Freunde und etwas weiter entfernt schlafen die Mosaikmanufakteure von Kitengela. Ich habe versucht, die meisten meiner Eindrücke in Worte zu fassen, einfach um sie loszuwerden. Um sie festzuhalten für meine Kinder und um Sie und euch in den Arsch zu treten, mal aus dem deutschen Alltag auszubrechen und ein ganz anderes Land zu erleben. Ein Land, in dem einem Giraffen vor das Auto laufen und Zebras den Garten plündern. Der Flug ab Hamburg mit Emirates (inklusive viel zu Essen und zu trinken) kostet 680 Euro hin und zurück. Eine Flasche Gin in Nairobi kostet rund 10 Euro. Und alles davor, dazwischen und danach lässt sich kalkulieren. Ich sehe die Welt nun mit anderen Augen. Und ich werde wiederkommen.

Sandmann

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Über Sandmann

Die Zeit ist zu knapp für langweilige Autos, Abende vor dem Fernseher oder schlechten Wein. Ich pendel zwischen Liebe, Leben und Autos und komme nicht zur Ruhe. Aber ich arbeite daran.

8 Antworten zu Kitengela

  1. Marc R. sagt:

    erst dachte ich ja…

    aber ne, der Artikel ist sehr lesenswert. So was ganz anderes als Deutschland, Dänemark und vielleicht noch Schweiz. Das tut gut zwischendurch. 🙂

    • Sandmann sagt:

      Ay Marc,

      WAS… dachtest du? 🙂 Ich finde Aufmacher und Überschrift sagenhaft 😉 und bin mal wieder begeistert, wie viele den lesen – aber wie wenige bei Facebook ein Like spendieren. Ich verstehe einfach die Mechanik dahinter nicht, aber es soll mir egal sein, solange ich mit meinem Blog kein Geld verdiene und nur meine Psychosen loswerde….

      Sandmann

  2. Anonymous sagt:

    Lesen und gefallen sind zwei verschiedene Sachen…

    • Sandmann sagt:

      Davon gehe ich aus.
      Wär ja auch schlimm wenn alle hier auf alles stehen, sobald ich drei Sätze schreibe 🙂

      • SteffenG sagt:

        Naja, wenn alle Deine Worte sofort geil finden würden, dann wärst Du ein Messias oder würdest Dich dafür halten… („Money for nothin‘ and chicks for free…“) 🙂

        Ich muss es ja immer wiederholen, Afrika ist geil! Der Lebensstil kollidiert so wunderbar mit unserem, das muss man erlebt haben.
        Überall findet man irgendwelche Aussteiger aus Europa, mal mehr, mal weniger erfolgreich – je nach Ausstiegsgrund.
        Allerdings sind mir solche „Künstlerkolonien“ auch etwas fremd. Ich kann dem nix abgewinnen. Gerade diese esoterische Strömung kommt mir vor wie eine krampfhafte Realitätsabwehr. Das ist nicht schön, sondern bestenfalls kitschig. Da bin ich Radikal.

        Ich finde es gut, dass Du es gut gefunden hast! Und die Kleine hat wenigstens keine Angst vor der Welt da draußen, vor anderen Menschen, Völkern oder Tieren.

        Steffen

        • Sandmann sagt:

          Ay Steffen,

          so einen „Aussteiger“, zumindest einen temporären, habe ich in Kitengela kennen gelernt 🙂 Der Österreicher mit seinem V8 Landrover. Da mache ich einen Bericht in der TRÄUME WAGEN von…..

          Ob diese Form der Kunst kitschig ist oder realitätsfremd… da wage ich kein Statement. Ich fand den Ort schlicht gruselig, und meinen Geschmack trifft diese Glaskunst auch nicht. Aber die Gastgeberin war super, ihre Tiere auch und deshalb war dieser Fleck auf der Erde eine reise wert. Und dieses Autowrack… großartig…..

          Sandmann

  3. Daemonarch sagt:

    Seltsam… Ich bekomme bei Facebook gar keine Benachrichtigungen mehr über neue Beiträge hier. Soviel zu „intelligente Filter“…

    Wahnsinn, deine Berichte bringen einem dieses Afrika sehr plastisch näher, und lässt die faszination für das Land besser verstehen.
    Mir persönlich wäre das schon zu wild und urwüchsig, zumal ich wahrscheinlich versuchen würde, sämtliche Viecher dort zu knuddeln, ob sie wollen oder nicht.

    • Sandmann sagt:

      Ay Daemonarch,

      ich dachte schon du hast dich still und heimlich abgesetzt 😉
      Seit ich in Afrika war ist mein Horizont ein bisschen weiter. Und Deutschland kommt mir plötzlich sehr klein vor. Und sehr grau. Und merke: Wenn so ein Tier nicht knuddeln WILL, dann sollte man das auch lassen. Vor dem Kranich hatte ich echt Respekt. Und so ein Kamel…. das stinkt schon ziemlich derbe 😀

      Sandmann

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